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Die Fliege Und Die Ewigkeit

Die Fliege Und Die Ewigkeit

Titel: Die Fliege Und Die Ewigkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hakan Nesser
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zittern.
    »Wo wohnt er?«
    »Wo er wohnt? In einer alten Villa im Ardenviertel ... direkt hinter dem San-Lorenzo-Kloster. Warum fragst du?«
    »Er ist doch derjenige, der die Entscheidung trifft, wenn ich es recht verstanden habe?«
    »Welche Entscheidung?«
    Tomas zieht eine Augenbraue hoch.
    »Nach dem zweiten Jahr, dem vierten Semester. Wer weitermachen darf ... oder etwa nicht?«
    »Doch, ich denke schon.«
    Auch wieder eine kleine Lüge. Denn es gibt gar keinen Zweifel. Er weiß nicht, warum er das Tomas vorenthält. Wenn der Freund es nicht schon weiß, dann muss er es doch in Erfahrung bringen, sobald er sich mit der Fakultät vertraut macht. Das ist kaum zu vermeiden. Natürlich ist es Hockstein, der entscheidet, eine Selbstverständlichkeit, der reine Truismus.
    Und die Studenten, die nach dem letzten Semester Gnade vor seinen Augen finden – besonders viele pflegen es nicht zu sein, ein oder zwei, manchmal kein einziger –, ja, die können sich mit Recht als auserwählt betrachten. Es verhält sich tatsächlich so, wie Tomas bereits spekuliert hat. Wenn man einmal von Hockstein höchstpersönlich ausgesucht wurde, dann kann man auch in Zukunft mit Unterstützung rechnen: Promotion und Forschungsstipendien, Zuschüsse, akademische Karriere; plötzlich scheint alles abgesteckt zu sein. Aber wie dem auch sei, wenn man erst einmal durchgekommen ist, dann bedeutet das ja wohl auch, dass man die Voraussetzungen dazu hat. Hockstein ist bekannt dafür, keinen Missgriff zu tun, es geht nur darum, die Pfründe zu verwalten.
    Aber wie gesagt, es sind nie viele. Und der Richter ist streng.
    Natürlich kennt Leon die Prämissen. Natürlich kennt Tomas sie auch, bereits zu diesem frühen Zeitpunkt. Er möchte sie offensichtlich nur bestätigt haben. Es ist kein Zufall, dass sie da in der ersten Bank im Brentano-Raum gesessen und sich während der Vorlesung ihre Notizen gemacht haben. Und wie sie mitgeschrieben haben, verdammt noch mal, mit dieser leicht impulsiven Unregelmäßigkeit, die so typisch ist für junge, begabte Philosophen.
    Und natürlich hat der Unergründliche ab und zu seinen durchdringenden Blick auf ihnen ruhen lassen ... und vielleicht hat er sich ja auch diese bedeutungsvolle Gedankennotiz vermerkt, dass er sich diese beiden Jünglinge einmal ein wenig genauer betrachten sollte, wenn es zum Frühling hin an der Zeit wäre. Oder nicht?
    »Noch Kaffee?«
    Leon schüttelt den Kopf. Betrachtet Tomas Borgmann, während dieser die letzten Tropfen aus der Kanne quetscht ... da ist etwas.
    Etwas, was ihn zögern und sich unwohl fühlen lässt. Gott weiß was. Es sind nicht mehr als zehn Tage vergangen, seit sie sich kennen gelernt haben, und jetzt verkehren sie bereits miteinander, als würden sie sich schon ihr ganzes Leben lang kennen ... und fast im gleichen Moment fühlt er sich noch unwohler gerade auf Grund dieses zurückhaltenden Gefühls, dieser Unlust. Warum zögert er? Was ist mit ihm los?
    Offensichtlich braucht es Zeit, um sein Einsiedlerdasein abzuschütteln.
     
     
    Ein Bild.
    Grothenburg im September. Vielleicht das Letzte, das vergilbt.
    Die ersten Tage des Herbsts. Die Schwüle des Sommers, die in Tage voller Klarheit und Weite übergeht. Die lärmende Rückkehr der Studenten. Die Einwohnerzahl der Stadt hat sich plötzlich verdoppelt und das Durchschnittsalter halbiert. Der Markt, die Geschäfte und Cafés füllen sich von Neuem; Abende und Nächte hallen von Stimmen, Lachen und Flüchen und vereinzelten spröden Gesängen wider. Gassen, Brücken und Gewölbe erzittern, alles schüttelt die Lethargie des Sommers ab, erwacht zu neuem Leben und zur Geisteslust. Aus dem trägen Wasser der Kanäle steigt ein neuer, bedeutungsschwerer Schimmer hervor, und im Vlissingen, der Studentenkneipe par préférence, werden wieder einmal die roten Papierlaternen gegen die Abenddunkelheit und die verstockte Unkenntnis der übrigen Welt entzündet ... Grothenburg.
    So ist es, so wurde es in der Studentenzeitung Glax beschrieben, bereits vor fünfundzwanzig Jahren.
    Seine Beziehung zu all dem? Mein Gott, er weiß es nicht. Oder weiß es nur zu gut. Der Ort und Leon, das sind konzentrische Kreise, die Stadt in ihm, er in der Stadt, eine Wechselwirkung; Voraussetzungen und Spiegel ... und im Haus der Fakultät und im Studentenwohnheim werden die Erstsemester in Empfang genommen. Diesbezüglich kann er direkt einen gewissen Neid empfinden, sie haben noch vier Jahre vor sich, diese

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