Die Fliege Und Die Ewigkeit
Vorstellung, wenn Leon ehrlich sein soll. Er hat nicht besonders viel davon gehabt. Aber vielleicht hat er trotz des Büffelns den Sommer über auch nicht alles richtig mitgekriegt. Es war ja schließlich Hockstein, der da am Katheder stand. Fast eine Stunde lang hat das Orakel zu ihnen gesprochen – auch wenn man ab und zu das Gefühl haben konnte, als richte er seine Worte eher an eine ganz andere Zuhörerschar, an ein ganz anderes Auditorium ... ein irgendwie jenseitiges vielleicht?
»Und was ist es, was alle fühlen? Weihe mich ein, sei so gut. Ich möchte die Voraussetzungen klar vor Augen haben.«
Es ist offensichtlich, dass Tomas gar nicht daran denkt, das Thema fallen zu lassen.
»Ja, er ist ja nun nicht wie alle anderen«, sagt Leon und bricht sein Rosinenbrötchen durch. »Beherrscht die Fakultät mit eiserner Hand, das lässt sich nicht leugnen. Obwohl er nur ein oder zwei Tage in der Woche da ist. Es wird gesagt... nein, schon gut.«
»Was wird gesagt?«
»Ach, nichts.«
»Komm schon.«
»Es wird gesagt, dass man seine Anwesenheit bis hinunter in den Hörsaal spüren kann.«
»Seine Anwesenheit? Wie denn das?«
»Ja, wie ein ... Vibrieren. So eine Art Energiefluss. Er hat ja sein Arbeitszimmer ganz oben unter dem Dachgiebel, wie du weißt, und es soll also zu spüren sein, ob er am Platz ist oder nicht ... aber meistens ist er ja irgendwo anders, wie gesagt. Und wer sich gegen ihn stellt, der wird nicht alt an der Fakultät. Aber das sind nur so Sachen, die ich gehört habe.«
Tomas, der Zweifler, rührt braunen Zucker in den Kaffee.
»Hm, das denke ich nicht. Nach allem, was ich verstehe, hast du da auch deine Finger drin. Hast du ihn persönlich getroffen? So unter vier Augen, meine ich?«
»Nein.«
Das war leicht gelogen. Als Leon den Schlüssel bekam, um bei Rinz nach dem Rechten zu sehen, hatten sie sich sogar begrüßt, der Professor und er. Delmas? Angenehm. Aber es wäre doch verwunderlich, wenn Hockstein sich an seinen Namen erinnern würde. Dass es Leon war, der sich den Sommer über darum gekümmert hat, dass ihm die Post nachgeschickt wurde, davon hatte er sicher keine Ahnung. Der große Hockstein, warum sollte er sich um so etwas Gedanken machen? Es ist nicht seine Sache, Leon zu bemerken, es ist die Leons, dafür zu sorgen, dass er es tut ... Ungefähr in diesen Bahnen verlaufen seine Gedanken, wenn er an die Zukunft denkt. Aber es ist nichts, was er im Augenblick ernsthaft in Betracht zieht, ganz und gar nicht. Der Tag wird schon kommen, denkt er. Es ist noch Zeit.
Obwohl sie am Ablaufen ist. Mehr als ein Jahr steht nicht mehr zur Verfügung. Zwei lächerliche Semester, es wird unweigerlich Zeit, die Sache ernsthaft zu bedenken. Zeit, den Sprung in die Zukunft vorzubereiten.
»Die Vorlesung war beeindruckend, nicht wahr?«
»Was? Ja, ich denke schon ...«
»Die Verbindung zwischen Kant und Spinoza war wohl etwas willkürlich, das ist ja doch eher eine methodische Frage.«
»Nein ...« Leon ist sich nicht sicher, was Tomas eigentlich meint. Er kaut nachdenklich auf seinem Brot und sieht stattdessen aus dem Fenster. Über den Kanal, die Büsche und die Fahrräder, die auf der anderen Seite in großen Mengen am Zaun stehen.
»Schade, dass er sich nur um die Viertsemester kümmert.«
»Ja.«
Obwohl das natürlich eine Selbstverständlichkeit ist. Sicher sieht Tomas das auch ein. Professor Hockstein kümmert sich nur um die Studenten, die es bis zum vierten Semester schaffen. Wie könnte es anders sein? Denn erst da zeigen sich die Hoffnungen, die Philosophen von morgen... Warum sollte er seine Kraft auf die vergeuden, die sowieso unterwegs herunterfallen? Auf die, die nur ein oder zwei oder zweieinhalb Semester durchhalten? Nein, vielmehr sollte man dankbar dafür sein, dass er sich überhaupt die Zeit nimmt, an der eigenen Fakultät zu unterrichten. Sich die Zeit nimmt – denn jedes Jahr kommt er mit einer unbegreiflich hohen Anzahl an Büchern, Schriften und Artikeln über allgemeine philosophische Fragen heraus, und jedes Jahr nimmt er an einer Schwindel erregend hohen Zahl von Konferenzen, Symposien und Zusammenkünften in der ganzen Welt teil ...
Eher ein Name als ein Mensch aus Fleisch und Blut, wie man so sagt. Klein und messerscharf und stets in schwarzem Anzug. Und mit einem Blick, der in der Lage zu sein scheint, sich durch Zeit und Raum zu bohren.
Ganz zu schweigen von den Studenten, denen es gelingt, seinen Weg zu kreuzen. Die bleich sind und
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