Die Fliege Und Die Ewigkeit
ruhig. Ich weiß, dass keiner von uns dieses Schweigen, dieses Bündnis brechen wird. Wir werden uns nicht eingestehen, dass das geschieht, was geschieht, und wir werden es uns nicht eingestehen, wenn die Nacht vorüber ist.
Bevor ich sie verlasse, versuche ich dennoch, etwas in einem eher rationalen, lichtempfindlichen Modus zu sehen, doch als Einziges taucht die altvertraute Suggestion vom Auge des Pferdes auf.
Das Auge des Pferdes. Genau das kommt in der Nacht auf mich zu, die unverstellte, unausgesprochene Frage des stummen Tieres, dieses Bild, bei dem ich so oft gestrandet bin. Ich weiß nicht, was es bedeutet. Begreife nicht, welche Anklage es für mich bereithält.
Dann lasse ich den eisernen Bettpfosten los und schleiche mich davon. Eine Bodendiele knarrt, hinter mir dreht Marlene sich auf die Seite.
In dieser Nacht kann ich nicht mehr schlafen. Ich liege da und wälze mich hin und her bis zum Morgengrauen. Marlene ist früh auf und macht Frühstück, über den Tisch in der Küche hinweg vermeiden wir es, uns anzusehen, die Worte kommen nur zögerlich. Dennoch scheint es, als gäbe es eine neue Form des Einverständnisses zwischen uns, jedenfalls bilde ich es mir ein, und ich bitte sie, auf meine Rechnung im Ort einen guten Wein zu kaufen.
26
W enn es stimmt, was man sagt, dass die Liebe den Hunger stillt, ja, dann ist er bereits verliebt, als sie dort bei Arno’s sitzen.
Er isst nichts, er trinkt nichts; stochert nur ein wenig in der indonesischen Safranente, die einzig für mindestens vier Personen serviert wird, und das Eis schmilzt. Und jetzt, jetzt in der Nacht, als die Sterne sich hinter dunklen Wolken verstecken, sind es nicht die alten, üblichen Fragen, die ihn wach halten, sondern das Bild von ihr.
Marlene.
Eine schönere Frau hat er nie gesehen, das ist schon einmal klar. Das hätte er sich kaum vorstellen können. Wie anders, wie lebendig und neu sie doch ist, wie unwiderstehlich voller Frische und Ursprünglichkeit ... es ist fast unbegreiflich. Unbegreiflich, dass sie überhaupt von gleicher Art, Kategorie und gleichem Geschlecht sein kann wie all die anderen, die er in Cafés und Restaurants getroffen hat – wie soll er sie beschreiben?
Von oben nach unten? Warum nicht?
Das Haar ist dunkel, halblang und in einer lockeren, schlichten Frisur geschnitten, deren Namen er nicht kennt, wenn Frisuren überhaupt Namen haben. Ihr Gesicht ist blass und empfindsam, der Mund schön geformt und ausdrucksvoll, die Augen braun, tief und voller Wärme, ohne Vorbehalt kann man geradewegs in sie hinein sehen, ohne Unruhe ... nein, jetzt hat er schon einen Fehler gemacht, natürlich sitzen die Augen über dem Mund, er kann ebenso gut gleich aufgeben.
Und was er auch nicht verstehen kann: wie es möglich ist, dass er sie bisher nie gesehen hat. Denn sie wohnt ja hier in der Stadt, studiert romanische Sprachen im zweiten Jahr, nimmt zwar nur wenig am Studentenleben teil, das gibt sie zu, aber dennoch muss er sie doch schon einmal gesehen haben, oder? Irgendwo im Gewühl ... auf dem Markt, im Buchladen, während der Festivaltage. Wie so etwas hat stattfinden können, ohne dass er sie bemerkt und sich eingeprägt hat, das ist ihm ein Rätsel. Das kriegt er einfach nicht in seinen Schädel. Das ist widersinnig. Sicher, er war ein einsamer Wolf, aber trotzdem hat er doch wohl Augen im Kopf, oder?
Außerdem ... ja, außerdem ist da etwas Besonderes. Etwas, das er fast zu identifizieren meint und das eine ganz besondere Saite in ihm anklingen lässt. Vielleicht ist es einfach nur ihre Art, den Kopf auf dem schlanken Hals zu bewegen, oder die Haltung ihrer Schultern ... so eigentümlich vertraut erscheint es ihm, dass er meint, es müsste ihm jeden Moment absolut klar sein.
Aber dem ist nicht so. Nichts ist klar. Worum es eigentlich geht, dieser Frage kann er sich in dieser wolkenverhangenen Nacht nicht einmal nähern.
Dafür wird es ein paar Tage später umso klarer, als Tomas kommt, um ihn zur morgendlichen Vorlesung abzuholen.
»Weißt du, wer sie ist?«
»Wer?«
»Marlene.«
»Wie meinst du das? Wer sie ist?«
»Nun ja. Sie ist Hocksteins Tochter.«
Er schüttelt das Wasser vom Regenschirm. Leon muss sich an der Wand abstützen.
»Das ist ... das ist unmöglich«, bringt er gerade noch heraus.
Tomas lacht. »Warum sollte das unmöglich sein?«
»Woher willst du das wissen?«
»Weil sie es mir erzählt hat. Wir sind gestern Abend im Theater gewesen. Anschließend
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