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Die Fliege Und Die Ewigkeit

Die Fliege Und Die Ewigkeit

Titel: Die Fliege Und Die Ewigkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hakan Nesser
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habe ich sie nach Hause gebracht, und da ergab es sich von selbst, dass ich sie nach ihren Eltern gefragt habe, findest du nicht?«
    »Mm.«
    »Eigentlich lustig, dass ich sie bis jetzt nie nach ihrem Nachnamen gefragt habe.«
    Leon nickt und schluckt. Schluckt und nickt. Lässt die Wand los, beginnt nach seinen Schuhen zu suchen und spürt, wie ihm die Röte ins Gesicht steigt.
    »Was war das denn für ein Stück ... ich meine, ich dachte, du wolltest Wittgenstein lesen?«
    »Den musst du mir auf dem Weg zusammenfassen. Denn du hast ihn doch wohl durchgeackert?«
    »Ja, natürlich ...«
    »Nun komm schon! Wir haben nur noch eine Viertelstunde.«
    Leon schaut auf die Uhr und stopft seine Bücher in die Aktentasche. Stellt fest, dass er erst einen Schuh anhat.
    »Regnet es?«
    »Nee, mir ist der Regenschirm in den Bach gefallen.«
    Steht Tomas da und lacht ihn aus? Leon wagt es nicht, den Blick zu heben und sich selbst zu überzeugen. Seine Wangen brennen.
    Marlene die Tochter von Professor Hockstein.
    Tomas und Marlene im Theater.
    Ja, das war natürlich klar.
     
     
    Natürlich ist es klar, dass es Tomas und Marlene sind.
    Warum sollte Tomas entgangen sein, was ihm selbst nicht entgangen ist? Sie befanden sich schließlich am gleichen Punkt. Einer von ihnen ist weitergegangen, der andere ... so ist es nun einmal. Genau so. Aber was soll’s, vielleicht ist es nur gut so. Leon vergisst alle Scham und vergräbt alles in einer dunklen Ecke seiner Seele, versteckt die ganze Seele in einer dunklen Ecke von Kierkegaard. Was soll’s, es konnte gar nicht besser kommen, jetzt kann er sich in diesen letzten Wochen ganz auf seine Aufgaben konzentrieren. Wo er doch sowieso keine Komplikationen wünscht. Gesagt, getan. Warum sich grämen? Warum weiter darüber nachgrübeln? Und übrigens: Gibt es einen unphilosophischeren Zustand als den der Liebe? Wohl kaum. Das war’s also. Exit Leon, finis.
    Plötzlich ist Tomas auch an den Abenden verabredet. Das ist neu. Leon sieht ihn fast überhaupt nicht mehr, andererseits sieht er ja sowieso so gut wie keine anderen Menschen. Was er tut?
    Er liest. Leon Delmas liest.
    Tage und Nächte hindurch. Wie nie zuvor.
    Die Vorlesungen sind beendet, und Leon liest. In seinem Zimmer in der Bastilje sitzt er von morgens bis abends, von abends bis morgens, und er liest, dass ihm die Augen brennen und aus den Höhlen quellen wollen oder sich zumindest vor dieser Riesenmenge von Worten abwenden wollen, Worte, Worte, Worte, und manchmal fragt er sich, und das in immer kürzeren Zeitabständen, ob es überhaupt eine Wirklichkeit außerhalb dieser Texte gibt. Luft oder Wasser oder fester Boden? Ob noch etwas anderes existiert und ob es in diesem Fall irgendeinen Zusammenhang zwischen diesem Etwas und diesen Worten und diesem zweifellos abgenutzten, durchscheinenden Raster gibt, das sein eigenes Bewusstsein ist. Das alte Problem der Existenz der Außenwelt bekommt plötzlich ein ganz konkretes Gewicht. Er entdeckt es immer deutlicher zwischen den Zeilen und fragt sich immer häufiger, ob er nicht dabei ist, eine Grenze zu überschreiten, nach der es keine Rückkehr gibt ... oder hat er sie womöglich bereits passiert? Woher soll er das wissen? Was ist das Kriterium dafür?
    Er seufzt und geht ins Bad, um seine Augen im kalten Wasser zu kühlen.
    Welche Rolle spielt das? Bald wird sowieso alles vorbei sein.
    Bald.
     
     
    Die Walpurgisnacht feiern sie zusammen, das ist immerhin etwas. Marlene ist natürlich dabei und noch ein paar andere Bekannte. Sie sitzen im Restaurant Mefisto. Leon ist noch nie dort gewesen, es ist eigentlich kein Studententreff. Die Stimmung hier ist eine andere, gepflegter. Die Tischdecken sind eine Spur weißer, das Essen eine Spur teurer. Und die Gespräche und das Lachen klingen wohl auch etwas anders, wenn man ein Ohr dafür hat. Und Tomas? Tomas benimmt sich doch auch nicht so wie sonst, oder?
    Etwas Neues ist auf dem Weg. Etwas Altes endet, oder etwa nicht?
    Übergangszeit. Häutungszeit.
    Aber im Nachhinein erinnert er sich in erster Linie an Marlenes Ohrringe – wie zwei dunkle Blutstropfen vor ihrem schneeweißen Hals ... und die Schmelzer-Affäre, die in der letzten Woche aufkam und aufgedeckt wurde und die ein unvermeidliches Gesprächsthema ist. Tomas vertritt ausnahmsweise einen Standpunkt, den keiner der anderen versteht und niemand mit ihm teilen will, er versucht die beiden Offiziere in Schutz zu nehmen, aber wie sehr er sich auch anstrengt, er findet kein

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