Die Fliege Und Die Ewigkeit
Schweigen ... lehnt sie ihr Bein an seines.
Und lässt es dort das ganze Konzert über. Während gut zwei Stunden strömt sie in gewisser Weise in ihn hinein, sie in ihn, er in sie. Durch diesen sonderbar leichten Kontakt berührt sie ihn in einer Art und Weise, wie kein anderer Mensch zuvor ihn je berührt hat. Weder früher noch später.
Seine Aufmerksamkeit ist so stark, allein darauf gerichtet, so dass alles andere an ihm vorbeirauscht, diese einzigartige Kontrapunktik, diese wogenden Harmonien, dieses tausendköpfige Publikum, dieser wollüstig tiefrote Konzertsaal... nichts erreicht ihn, nur das.
Und er begreift, dass sein ganzes Leben, sowohl vor als auch nach diesen Stunden, nur ein einziges Ziel haben kann.
Diesen Zeitraum zu erfassen.
Zu ihm hinzuführen und ihn zu erinnern und sich ins Bewusstsein zurückzurufen. Während er dort sitzt, wünscht er sich erneut, dass die Zeit in ihrem ewigen, trostlosen Fluss innehalte, dass Bach mindestens hundert Brandenburgische Konzerte statt der lächerlichen sechs geschrieben hätte, dass er in diesem Zustand für alle Ewigkeit verbleiben könnte.
Natürlich gibt es auch eine leise und nicht besonders durchdringende Stimme, die ihm ab und zu ins Ohr flüstert, dass hier ja trotz allem nur die Rede von zwei Beinen ist, die sich gegeneinander lehnen, aber warum sollte er solch dürftigen Tonfolgen lauschen?
Als alles vorbei ist, als der letzte Applaus sich gelegt hat und es Zeit ist aufzustehen, da begreift er nicht, wie ihm das aus eigener Kraft gelingen soll, so erschöpft fühlt er sich.
Doch da sieht sie ihn an, und das genügt.
Ja, ist es nicht das, was ihn später nicht zusammenbrechen lässt? Was ihn die Prozedur der Festnahme, das Verhör und die Wochen der Gerichtsverhandlung ertragen lässt ... Was Letzteres betrifft, sind da natürlich auch noch Tomas’ Augen. Der unverwandte Blick des Freundes dort hinten in der dritten Bank. Ja, während es geschieht, ist es genau das, worauf er sich konzentriert, doch später, sehr viel später, da meint er zu wissen, dass es trotz allem das Brandenburgische Konzert war, das ihm die meiste Kraft gegeben hat und dafür sorgte, dass er am Leben blieb. Es ist der Gedanke an Marlenes Bein an seinem während dieser magischen Stunden, der ihn durch die Gerichtsverhandlung trägt, durch die Schande und durch die erste schwere Zeit im Gefängnis.
Denn in der gerichtspsychiatrischen Klinik ist Tomas ja nicht in der Nähe.
»Sie geben also ohne alle Umschweife zu, dass Sie Professor Hockstein getötet haben?«
»Ja.«
»Aber Sie hatten überhaupt keinen Grund, es zu tun. Denken Sie wirklich, dass wir Ihnen das glauben? Sind Sie ernsthaft der Meinung, dass ein gesunder Mensch so handelt?«
Und er korrigiert. Zum tausendsten Mal.
»Entschuldigung, aber ich habe nie behauptet, dass es keinen Grund gibt. Ich habe nur gesagt, dass ich keinen nennen werde.«
»Decken Sie jemanden?«
»Das möchte ich nicht beantworten.«
»Warum?«
»Auch das möchte ich lieber nicht beantworten.«
»Ich gehe davon aus, dass Sie jemanden schützen wollen.«
»Sie können von allem ausgehen, was Sie wollen. Das ist mir egal.«
»Ist es eine Frau?«
»Ich verstehe nicht, wovon Sie reden.«
»Bereuen Sie, was Sie getan haben?«
»Ja.«
»Warum können Sie das Motiv nicht aufdecken?«
»Weil ich beschlossen habe, es nicht aufzudecken. Mein Entschluss ist unwiderruflich. Ich gebe zu, dass ich Professor Hockstein ermordet habe, und ich bin bereit, meine Strafe auf mich zu nehmen.«
»Waren Sie mit Marlene Hockstein, Professor Hocksteins Tochter, näher bekannt?«
»Ich habe sie einige Male getroffen.«
»Waren Sie in sie verliebt?«
Woher haben sie solche Fragen? Er geht dazu über, zu schweigen. Er ruft sich Tomas’ Blick oder Marlenes Bein ins Gedächtnis, ja, in erster Linie Marlenes Bein, und er schweigt.
»Hat Ihr guter Freund Tomas Borgmann etwas damit zu tun?«
Und er erinnert sich, wie er in der Nacht nach dem Konzert, in der Nacht nach der Berührung, der letzten Nacht, mit einem breiten Lächeln auf dem Lippen schläft, so breit, dass er sich am nächsten Morgen fragen muss, warum seine Wangen ihm wehtun.
27
D er Blick wandert über die Apostel. Wieder einmal.
Auch heute alle zwölf. Zum letzten Mal. Es fehlt nur noch die Zusammenfassung, diese ausgefeilten und sorgfältig ausgewählten Sentenzen, die für alle Zeit in ihnen haften bleiben sollen, die Summe all dessen, was in irgendeiner
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