Die Fliege Und Die Ewigkeit
Gehör.
Vielleicht ist er auch nicht so recht bei der Sache. Man trinkt an diesem Abend ziemlich teure Weine, und er scheint interessierter daran zu sein, die richtige Rebsorte und den richtigen Jahrgang als Verbündete zu gewinnen, wie es scheint. Leon selbst macht sich weder aus dem einen noch aus dem anderen etwas. Er versucht Marlene anzuschauen, ohne sie direkt anzusehen. An sie zu denken, ohne an sie zu denken. Er wünschte, er wäre irgendwo anders. Weit entfernt, mindestens auf der anderen Seite der Wand.
Neun Tage, nur noch neun Tage verbleiben.
Zweimal trifft Leon Marlene. Das ist alles.
Alles im wahrsten Sinne des Wortes. Das erste Mal ist eine Laune des Schicksals. Während einer Zugreise über die Alpen ereilt den Bischof Borgmann plötzlich akutes Herzversagen. Er wird ins Innsbrucker Krankenhaus eingeliefert, Tomas erfährt davon und muss sich Hals über Kopf auf den Weg machen. Nach nur wenigen Tagen hat der Vater sich erholt, der Sohn kann heimkehren, doch während dieser Zeit, während dieser kurzen Abwesenheit, hat Leon seine Chance. Man hatte einen Tisch bei Chez Hugo bestellt und wollte nicht so kurzfristig absagen. Tomas bittet Leon, doch einzuspringen, und also sitzen sie da, Marlene und er. Sie essen, trinken und unterhalten sich, und alles verläuft in Bahnen, dass er sich fragt, ob ... ja, er weiß nicht mehr, was er sich eigentlich fragt. Anschließend bringt er sie nach Hause an der Langgracht entlang und wünscht sich, er könnte diesen Spaziergang bis in alle Ewigkeit ausdehnen. An ihrer Haustür angekommen umarmen sie sich, länger als die Höflichkeit erfordert, wie er schon meint, deutlich länger, und als er sie loslässt, bittet sie ihn, ihnen, das heißt Tomas und ihr, doch in der folgenden Woche beim Besuch des Brandenburgischen Konzertes Gesellschaft zu leisten.
Leon verspricht, darüber nachzudenken, und verlässt sie.
Das schriftliche Abschlussexamen in Philosophie für die Studenten des vierten Semesters ist schon seit langem für den zwölften Mai angesetzt, einen Montag. Am Donnerstag, dem achten, dem Tag vor Professor Hocksteins letzter Prüfung, widmet Leon kaum eine Sekunde den Büchern. Stattdessen geht er zu Wlachmann’s, dem Herrenausstatter, kauft sich einen neuen Anzug, ein weißes Hemd, Strümpfe und einen schmalen Schlips. Er sucht außerdem den Friseur auf, lässt sich die Haare schneiden und legt sich ein neues Rasierwasser zu. Zwei Stunden verbringt er im römischen Bad.
Er spürt eine eigentümliche, unterdrückte Erregung in sich. Zurück in seinem Zimmer macht er sich mit äußerster Akribie zurecht; er will gar nicht nachrechnen, wie lange er vor dem Spiegel steht ... er steht da, schließt die Augen und öffnet sie wieder ohne Vorwarnung, nur eines und dann wieder beide zugleich, um festzustellen – wenn es denn möglich ist –, wie er aus dem Blickwinkel eines anderen Menschen aussieht. Das Experiment verschafft ihm nicht viel Klarheit, dann macht er sich auf, viel zu früh, aber dann wird es doch irgendwann Viertel vor acht, und er trifft Marlene und Tomas unter den Kolonnaden vor dem Eingang zum Konzerthaus. Marlene legt ihm eine Hand auf den Arm. Vertraulich, wie es ihm scheint.
»Danke für letztes Mal.«
»Ich bin derjenige, der zu danken hat ... dem Bischof auch.«
Tomas lacht, doch Leon bemerkt, dass er ihn verwundert ansieht. Sie drängen hinein. Marlene grüßt nach rechts und links. Tomas auch. Was Leon betrifft, so sieht er in dem Gedränge kaum vertraute Gesichter, heute Abend sind keine anderen einsamen Wölfe unterwegs. Sie finden ihre Reihe und setzen sich.
Die Plätze sind ausgezeichnet, nahezu die besten im ganzen Saal, erster Rang, erste Reihe. Marlene sitzt zwischen ihnen, bis Tomas ist es weit, wenn Leon die Augen schließt und sich gegen den weichen Samt des Stuhlrückens lehnt, kann er ihr Parfüm riechen, das sich erfolgreich mit seinem eigenen neuen Rasierwasser mischt. Der Dirigent kommt auf die Bühne, das Licht wird gedämpft, der erste Geiger hervorgehoben, der Applaus legt sich und dann! Johann Sebastian Bach, Das Brandenburgische Konzert Nummer eins! Ihr Knie lehnt sich an seines ...
Wie viele Stunden seines Lebens hat er damit verbracht, an diese Berührung zu denken?
Marlenes Knie, das sich gegen seines drückt ... absolut bewusst und vollkommen ruhig. Genau in dem kurzen, konzentrierten Moment, in dem der Dirigent die ersten Takte anschlägt, mitten in diesem erwartungsvollen
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