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Die Fliege Und Die Ewigkeit

Die Fliege Und Die Ewigkeit

Titel: Die Fliege Und Die Ewigkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hakan Nesser
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aufrechtzuerhalten. Eine Lebenslüge, wenn man so will. In Wirklichkeit sind wir alle gleich einsam und unbegreiflich füreinander ... ja, ungefähr so hat er sich ausgedrückt. Ich weiß nicht, zum Teil hatte er wohl Recht. Zumindest was ihn selbst betraf.«
    Ich erwiderte nichts. Vielleicht hätte ich ihr einiges erklären können, aber das muss bis morgen und übermorgen warten.
    »Dennoch muss man versuchen, die Menschen zu erfassen«, fügte sie hinzu. »Sie sich begreiflich machen. Das ist alles, was uns bleibt.«
    »Alles?«
    »Ja, ich glaube schon.«
     
 
    Ich bin mir nicht sicher, ob ich voll und ganz verstanden habe, was sie meinte. Während wir dort vor dem Feuer saßen, überfiel mich mehrere Male spontan der Wunsch, sie in den Arm zu nehmen, aber ich traute es mich nicht, obwohl wir beide wacker von dem Wein getrunken hatten.
    Diese Auspizien, das Feuer und der Wein, lassen ja sonst die Zeit wie im Fluge vergehen und Vorsätze und Rückhalte wie ein Kartenhaus zusammenstürzen. Doch in diesem Falle halt nicht. Nicht, wenn es Marlene und mich betrifft. Wir halten uns an das, was wir zu tun haben, wir schummeln nicht bei den Regeln und bleiben jeder in seiner Ecke sitzen. Zumindest bislang. Heute bin ich beispielsweise ein gutes Stück in den Regalen weitergekommen. Habe nach einem gewissen Zögern Kierkegaards »Entweder-Oder« und Schopenhauers »Die Welt als Wille und Vorstellung« ausgewählt, zwei Werke, die ich nie in extenso gelesen habe, durch die ich mich nur mit Hilfe von Auszügen und Kommentaren geschummelt habe.
    Mein Krebs ist unverändert, und ich widme ihm kaum einen Gedanken. Es sind jetzt nur noch zwei Tage, bis mein Besuch endet, morgen muss ich anfangen zu erzählen, was sich an dem besagten Abend wirklich zugetragen hat. Es graut mir davor schon sehr. Vielleicht sollte ich dankbar dafür sein, wenn ich ein wenig betrunken bin.
    Sonst kann das eine schwere Nacht werden, das spüre ich.
     

29
     
    E s gibt zwei Aspekte, Leon. Den praktischen und den moralischen. Ich habe über alles genau nachgedacht, und was mich betrifft, so ist die Sache entschieden ... Ich werde es durchziehen, aber ich will dich an meiner Seite haben!«
    Der Ort ist der gleiche. Leons alte verräucherte Studentenbude mit den schmutzigbraunen Tapeten. Bücherregale mit abgeschrammten Stahlrohren. Der wacklige Teakholztisch. Kunstledersessel und der Kupferstich über der Heizung... zweifellos der gleiche.
    Natürlich ist alles, wie es immer gewesen ist, und dennoch ist plötzlich alles verändert, etwas ist anders ... das Glas auf dem Tisch und der Aschenbecher und die Lampe, die von einem langen Kabel von der Decke herunterhängt. Was ist mit diesen alltäglichen, vertrauten Gegenständen geschehen? Plötzlich zeigen sie sich von einer anderen Seite, fremd und unbegreiflich ... und die Kopfschmerzen wollen nicht weichen, obwohl er zwei, schließlich drei Tabletten genommen hat. Was sagt er da? Was versucht Tomas zu erklären?
    Eine blitzartige, klare Sekunde lang begreift Leon, was das Ding an sich ist. Plötzlich liegen Brentanos und Husserls phänomenologische Rätsel offen vor ihm. Einen winzig kurzen Augenblick lang besitzt er eine Schwindel erregende Einsicht.
    Dann wirbelt sie davon. Fort in das wortlose All, wie es das Reine, das Absolute immer tun muss. Das, was die Zeit niemals zu fangen vermag. Das, was das Gedächtnis allein in Form der blassesten aller Erinnerungen behalten kann: Ich habe gesehen!
    Leon hat gesehen. Es war bei ihm und hat sein wahres Gesicht gezeigt, doch nun ist es verschwunden.
    »Kloisterlaan! Du bist doch dort gewesen, oder?«
    Wovon redet er? Natürlich ist Leon dort gewesen. Er drückt sich die Mittelfinger an die Schläfen, genau wie Tomas es immer tut, und schließt die Augen. Spürt, wie langsam etwas in seinem Kopf heranwächst.
    »...da hinter der Villa bin ich auf eine Ulme geklettert, so dass ich einen guten Blick über die Mauer hatte. Von der Rückseite des Hauses also ... hörst du mir überhaupt zu?«
    »Ja, ja.«
    »Du weißt, wovon ich rede?«
    »Ja.«
    »Der Abstand zum Zimmer des Professors mit den Balkonfenstern kann nicht mehr als zehn, zwölf Meter betragen. Ich hatte einen ausgezeichneten Überblick über alles, und ich kann dir versichern, dass es unmöglich war, mich im Laub zu entdecken. Es hat mich auch niemand bemerkt, als ich hochgeklettert bin und als ich wieder runter bin. ... du weißt, dass ich ein sehr genauer Mensch bin, Leon.«
    Leon nickt.

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