Die Fliege Und Die Ewigkeit
Moment lang zögerte, bevor wir losten. Er nahm meine Hände in seine und sagte:
»Was immer auch passiert, Leon, so haben wir beide das auf dem Gewissen. Für alle Zeiten.«
Genau das sagte er, mir erschien es für seine Verhältnisse ein wenig pathetisch, und gleichzeitig fuhr ein feuchter Windzug um die Kioskecke. Ich erinnere mich, dass ich am Kopf fror, während ich gleichzeitig die Wärme seiner Hände spürte, und dass ich mich darüber wunderte.
Sicher, die Mechanismen der Erinnerung sind rätselhaft, und vielleicht stimmt auch nicht alles im zeitlichen Ablauf. Im Verflossenen bewegt sich unsere Erinnerung ja frei in alle Richtungen, und ebenso verhält es sich wohl mit der Zukunft. Für alles, was nicht im Hier und Jetzt geschieht, was für eine Art von Ordnung schaffen wir eigentlich dafür?
Was sind das für Linien, die Marlene im Vergangenen sucht? Was gebe ich ihr? Ist es nicht so, dass wir letzten Endes doch nur im Trivialen enden? Der entscheidende Moment in unserem Leben ist immer bleich bis zur Peinlichkeit.
Während wir zusammensaßen, unterbrach sie mich ab und zu, nicht, um Fragen zu stellen oder Einwände anzubringen, sondern einfach nur, um eine Unterbrechung zu haben, wie es mir schien. Eine Pause in der Abfolge der Ereignisse. Ein paar Mal stand sie auch auf und lief auf dem Strand hin und her, und einmal stand sie lange da, mit dem Rücken zu mir, ganz nah am Wasser. Ich konnte ihren Schultern und ihrem Kopf ansehen, dass sie weinte.
Als sie jedoch zurückkam und sich wieder hinsetzte, war sie äußerst gefasst.
Ich fuhr trotz allem fort bis zu dem entscheidenden Zeitpunkt auf dem Rathausplatz, doch da bat sie mich plötzlich aufzuhören.
»Du brauchst nicht weiter zu erzählen«, sagte sie. »Ich weiß ja, wie es weiterging.«
»Marlene«, sagte ich, und es wurde mir selbst klar, dass es das erste Mal während der ganzen Woche war, dass ich ihren Namen aussprach, »ich werde alles bis zum letzten Blutstropfen berichten, und du wirst mir zuhören, und wenn ich dich auf einem Stuhl festbinden muss!«
Sie schaute mich verwundert an.
»Ach«, sagte sie. »Es gibt also noch mehr?«
»Ja«, antwortete ich. »Es gibt noch mehr.«
»Es ist noch schlimmer?«
»Ja.«
»Könnten wir bis heute Abend warten?«
Ich nickte.
»Ich habe ein paar Fragen«, fuhr sie fort.
»Ja, bitte.«
»Das Telefongespräch. Er hat dich während der letzten Monate angerufen, oder?«
»Ja. Dreimal.«
»Was wollte er?«
»Er hat nichts gesagt.«
»Aber du hast es dennoch verstanden?«
»Jetzt verstehe ich es. Damals habe ich es nicht verstanden.«
»Warum? Was glaubst du, warum hat er dir nicht gesagt, was er wollte?«
Ich zögerte. »Es gibt nicht für alles Worte«, sagte ich. »Wir nützen die Sprache ab, und plötzlich, wenn wir sie am dringendsten brauchen, ist sie nicht mehr zu gebrauchen. Aber wenn ich es richtig verstanden habe, hat er hier ja auch nicht besonders viel geredet.«
»Nein, das stimmt ...«
Wir schwiegen eine Weile.
»Die Beerdigung«, sagte sie dann. »Was ist da auf dem Friedhof passiert?«
»Ich weiß es nicht«, musste ich zugeben, und ich spürte, wie ich rot wurde. »Aber ich werde versuchen, es herauszubekommen.«
»Versprich mir, dass du das machen wirst.«
»Wenn ich es schaffe.«
Dann verließen wir den Strand. Marlene ging in die Küche, um unsere letzte Mahlzeit vorzubereiten. Ich tat wirklich mein Bestes und bot an, ihr zu helfen, doch sie schickte mich mit energischer Stimme in die Bibliothek.
»Heute ist der letzte Tag«, sagte sie. »Du musst deinen Auftrag erfüllen.«
Auch heute war ich nicht gerade in der Stimmung, dort zu hocken. Irgendwie erscheint es mir inzwischen, als wären auch alle diese Bücher so trügerisch, was natürlich ein vollkommen absurder Gedanke ist. Proust ist Proust, auch in den Händen eines Verräters, die Steine in der Laguna Monda behalten immer ihren gleichen Schimmer, egal, wer sie betrachtet – und wer war es eigentlich, wer hat dem Subjekt so viel Platz auf der Welt zugestanden? Auf jeden Fall rationalisierte ich, genau wie gestern, meine Bücherwahl. Ich führte ein paar einfache Operationen mit meiner eigenen Telefonnummer und der von Birthe durch, zählte die Regale und Bücherrücken ab und erhielt so schließlich zwei Bände.
Unglücklicherweise erwies sich der eine von ihnen als ein Foliant: Pearsons »Trinksitten am Dänischen Hofe 1876-1914 in Wort und Bild« . Ich muss es sicher in meine
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