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Die Fliege Und Die Ewigkeit

Die Fliege Und Die Ewigkeit

Titel: Die Fliege Und Die Ewigkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hakan Nesser
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Wein darin spiegeln. Er sieht sie von der Seite an ... sieht die fest zusammengepressten Kiefer, die sich hin und her bewegen. Ihren Brustkorb, der sich in immer hastigeren Stößen hebt und senkt. Ihre Hände umklammern die Armlehnen, bis die Knöchel weiß hervortreten, ja, ihr ganzer Körper scheint in eine Art Krampf verknotet zu sein ... dann steht sie auf, fast spastisch hebt sie ihre rechte Hand, die das Glas hält, und schlägt es geradewegs auf die Herdplatte.
     
     
    Und tatsächlich ... tatsächlich verhalten sich die kleinen, unberechenbaren Scherben genau, wie sie es im Film in so einer Situation zu tun pflegen: eigensinnig und sonderbar, sie brechen den Rhythmus abrupt ab; in dem Moment, als sie von den Fesseln des Glases befreit sind, übernehmen sie das Kommando über die Zeit. Die Gewalt in der Bewegung, im sinnlosen Ausbruch, geht in ihre eigene Inversion über, und unendlich langsam schweben die Splitter im Raum umher; langsam, ganz langsam sinken diese spitzen Kristalle in unberechenbaren Ellipsen und Variationen zu Boden, und bevor sie sich noch zur Ruhe gelegt haben, scheint es, als ob der gesamte Handlungsablauf sich so abgespielt und wiederholt hat, dass man meint, es hätte länger gedauert als der Film selbst.
    Und lange davor ist sie aus dem Haus. Draußen im tosenden Unwetter, nur im roten Kleid mit schwarzem Gürtel, und er folgt ihr nicht. Die Tür steht offen und klappert im Wind, aber das interessiert ihn nicht. Er sitzt da, starrt ins Feuer und zittert am ganzen Leib.
     
     
    Als sie zurückkommt, ist sie triefend nass. Sie zittert vor Kälte und hockt sich vors Feuer.
    »Verzeih mir«, bringt sie heraus. »Ich hatte ja keine Ahnung ...«
    Er gibt ihr ein Zeichen zu schweigen. Nicht noch mehr Worte darauf zu verschwenden. Sie streckt ihre Hände dem Feuer entgegen und versucht wieder Gefühl in sie zu reiben. Auf dem Boden um sie herum bilden sich große Pfützen. Er fegt die Scherben mit einer Zeitung zusammen und holt ein neues Glas aus der Küche. Wieder trinken sie. Sie trinkt Wärme aus dem Wein, doch ihre Zähne schlagen gegen den Glasrand ... dann geht sie in ihr Zimmer, um sich umzuziehen. Nach einer Weile kehrt sie in einem blauen, flauschigen Morgenmantel zurück, der ihr bis zu den Knöcheln reicht. Und dann sitzen sie wieder dort. Ihm ist klar, dass sie darunter nackt ist. Das Feuer fällt in sich zusammen, bald wird es nur noch einen Gluthaufen geben, auf den man starren kann, doch sie machen keinerlei Anstalten, den Flammen wieder Leben einzuhauchen.
    Es ist die Zeit an ihrem siebten Tag und während ihres letzten Gesprächs, an dem die Dunkelheit genau die richtigen Bedingungen stellt.
     
     
    »Da gibt es etwas, was du vielleicht nicht weißt«, sagt sie später, als sie gerade noch das Gesicht des anderen erkennen können. »Er hatte Leukämie. Mein Vater, meine ich ...«
    Leukämie?, denkt er. Warum sagt sie das? Was hat das zu bedeuten?
    »Er war zum Tode verurteilt, hatte nicht mehr als noch ein halbes Jahr zu leben, wie man es auch drehte und wendete. Ich wusste das nicht, aber meine Mutter hat es mir später erzählt ... Vielleicht erklärt das einiges.«
    Vielleicht erklärt das einiges?
    Er weiß es nicht. Fühlt nur, wie ihn eine schwere Müdigkeit überfällt. Es ist die gleiche Müdigkeit, die er im Traum über die Ebene geschleppt hat, die gleiche Müdigkeit, die er immer mit sich tragen wird, Segen oder Fluch, er weiß es nicht, doch ein Wegbegleiter. Zweifellos ein Wegbegleiter.
    »Wollen wir ein Weilchen schlafen?«, fragt er, und sie gehen zurück zum Sofa. Dieses Mal legt er nicht nur seinen Kopf zur Ruhe. Als wäre es die natürlichste Sache der Welt, ziehen beide sich aus, drängen sich auf dem Sofa unter den Decken aneinander und lieben sich heftig und lange.
    Als keiner von beiden mehr kann, bleibt er dennoch so liegen, immer noch in ihr, und sie lässt ihn nicht los. Er liegt an ihrem Rücken, die Arme um ihren Leib geschlungen, das Gesicht in ihr noch nasses, salzig duftendes Haar gebohrt.
    Und das Unwetter wütet.
     

36
     
    D as Haus begann nicht zu brennen, es explodierte. Ihm wurde klar, dass sie die Kanister sehr sorgfältig eingesetzt hatte. Obwohl er in sicherer Entfernung stand, peitschte die intensive Hitze glühende Wogen über sein Gesicht. Die ersten Feuerschwaden schossen sicher zwanzig, dreißig Meter in den stummen, grauen Himmel der Morgendämmerung hinauf. Der Donner war ohrenbetäubend, die Luft zitterte. Die Möwen

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