Die Fliege Und Die Ewigkeit
das Tierfell vornehmer geworden ist als das eigene Fell! Er staunte die Selbstverständlichkeiten, die unzähligen niedlichen Habseligkeiten des Wohllebens an ...
Musil? Ja, das musste Musil sein, der aufsteigt wie ein Dunst aus seinem alten Kellergewölbe. Warum? Macht das einen Sinn, und was geht da eigentlich vor? Er hat die Zügel losgelassen, lässt widerstandslos die verborgenen Türen und Siegel öffnen, nur damit er sich nicht aus dem Zug stürzen muss. So ist es nun einmal, genau so. Er klammert sich an Bildern fest, an den im Unterbewusstsein geformten Worten, an was auch immer, nur nicht dieser Ekel, dieser Widerwille.
Von vorn anfangen. Wieder den Tisch betrachten. Die Heideflächen. Die Windjacke ... die Augen schließen, die hartnäckige Flut erdrosseln und seine Gedanken wieder aufnehmen.
Das ist der Unterschied, sagen sie. Diese Befriedigung spüren zu können, dieses spröde, demütige Glück, oder es nicht spüren zu können. Vielleicht macht das nicht den Sinn oder die Antwort aus ... aber zumindest den Unterschied.
Und eigentlich ist es ein Verbrechen. Dieser Ekel.
...was ist mir diese Quintessenz von Staube? Ich habe keine Lust am Manne – und am Weibe auch nicht ...
Marlene, denkt er. Oder?
Oh, wenn es möglich wäre, es aufzuhalten, bevor alles zu spät ist! Warum geschieht nichts? Warum berührt ihn nichts? Der Windjackensohn raschelt mit irgendetwas in der Tasche und atmet schwer. Zweifellos hat der Junge Polypen. Das hört man schon, wenn man nur die Augen schließt.
Er hält sich am Tisch fest. Jetzt ist alles still. Kein Rascheln mehr, kein schweres Atmen. Hat der Junge einen Polypen ins falsche Halsloch gekriegt?
Er öffnet nicht die Augen. Und nichts geschieht.
Die ganze Zeit fährt der Zug, und nichts geschieht.
Tu doch etwas, Gott!
Die Abteiltür wird aufgerissen. Auf der Schwelle steht eine uralte Frau. Grau, klein und verschrumpelt wie Schweinerippchen, die allzu lange im Ofen geblieben sind. Nur in den Augen scheint immer noch Leben zu sein.
Er erkennt sie ohne jeden Zweifel wieder, aber offenbar ist er nicht ganz bei Sinnen. Seinem Wahrnehmungssystem ist in diesem warmen Morgenlicht, das durch die schmutzigen Fenster wogt und den Staub weckt und tanzen lässt, nicht so recht zu trauen, sie sollte doch, sie muss doch schon seit vielen Jahren tot sein, warum ist dann niemand auf die Idee gekommen, sie zu begraben? Fräulein Messer-Hülpen. Seine alte Lehrerin. Verkohlte Schweinerippchen?
Er zählt nach. Er war sieben, acht Jahre alt. Sie muss damals in Gottes Namen so um die Fünfzig gewesen sein ... keiner von ihnen hatte einen Vater oder eine Mutter, die auch nur annähernd so alt waren wie die Messer-Hülpen, das steht auf jeden Fall fest. Nicht einmal Mogens Mott, dessen alkoholisierter Vater – mit der fleischigsten und meisterwähnten Nase des Wohnviertels – wahrlich kein junger Spund mehr war ... Und auch wenn er fünf Jahre dazu gibt oder besser gesagt abzieht, dann muss sie zu diesem Zeitpunkt, hier in der Türöffnung, in diesem ziemlich angenehmen Zug durch die Heidelandschaften zwischen B. und K. mindestens neunzig sein. Neunzig Jahre alt.
Nun ja, unmöglich ist das natürlich nicht.
Sie trägt einen Hund im Arm. Und eine Tasche. Eine graugelbe kleine Ulmer Dogge mit Unterbiss und eine braune Handtasche an einem Riemen um den Hals. Sie lässt sich neben ihm niedersinken. Das Tier glotzt ihn an. Ein dumpfer, vibrierender Laut ist zu hören. Vielleicht ist es ein Knurren. Vielleicht kommt es gar nicht von dem Graugelben, sondern von der Messer-Hülpen. Das ist schwer zu sagen. So langsam erinnert er sich an sie ...
Scharfe Nägel, die sich in die Kopfhaut bohrten, wenn sie einen wegen Flöhen kurzgeschorenen Schopf zur Ordnung zupfen wollte ... Das Metalllineal, das über blaugefrorene Notwinterfinger sauste, ihre Atemzüge voller Honig und Zigarillos. Und die Ohreninspektion. Der scharfe, sechseckige Bleistiftanspitzer, der ins Ohr geschoben wurde, dort herumgedreht und gedrückt wurde, wie ein Holzbohrer, mit dem man in eine Schiffsplanke Löcher bohrt, bei dem der Riemen abwechselnd in die eine und in die andere Richtung gezogen wird, so dass er ständig rotiert, so hielten wir den Pfahl und wirbelten die glühende Spitze herum ... um es ganz ordentlich zu machen – und der oftmals Wunden schnitt und Blut und Schweiß hervorrief, so dass man eine Woche lang auf keinen Fall das Ohr waschen konnte, selbst wenn man es
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