Die Fliege Und Die Ewigkeit
wenigstens ist es das richtige Zimmer.
Der Professor stützt sich auf die Ellenbogen und kommt in halb sitzende Stellung. Er schaut Leon an. Der gleiche durchbohrende Blick wie immer. Ansonsten verzieht er keine Miene. Ein paar Sekunden verstreichen.
»Delmas?«, sagt er dann. »Ich hatte Borgmann erwartet.«
Deutlich ist seiner Stimme die Enttäuschung anzuhören. Er schließt die Augen und legt sich wieder hin. Löscht das Licht.
Leon ist gezwungen abzuwarten, bis er sich an die Dunkelheit gewöhnt hat, doch als sich die Konturen des großen Kopfes deutlich auf dem Kopfkissen abzeichnen, tritt er ans Bett. Die Atemzüge des Professors sind regelmäßig und ruhig.
Er zählt bis sechs, wie er es immer gemacht hat, als er bei den Onkeln im Sommer ins Wasser getaucht ist. Dann hebt er das Rohr und schlägt mit aller Kraft zu.
ein für alle Lebewesen gleichermaßen unbegreifliches Geschehen ...
Das Einzige, was zu hören ist: ein dumpfes, ganz leises Geräusch, ungefähr so, als ob jemand ein dickes Buch zusammenschlüge, beispielsweise Strunkes »Geschichte der Philosophie«. Leon weiß, dass er es nicht noch einmal machen muss.
In dem Moment, als er die Tür hinter sich schließt, hört er, wie unten ein Schlüssel ins Schloss geschoben wird, und ein paar Sekunden später ruft Marlene überrascht aus:
»Leon? Was für eine Überraschung!«
Er versteckt das Rohr unter seinem Mantel und sinkt auf der obersten Treppenstufe zusammen. Dann lehnt er den Kopf gegen die Wand und kneift fest die Augen zu.
Er hält die Augen mehr als eine Stunde lang geschlossen, bis zwei Polizeibeamten auf der Wache an der Gruyder Allé ihm mit sanfter Gewalt die Augen öffnen.
35
D as Unwetter setzte um acht Uhr ein und hielt bis zur Morgendämmerung an. Ohne Unterbrechung wütete es, und anschließend konnte er sich nicht daran erinnern, jemals so eine Nacht erlebt zu haben.
Es begann mit ein paar kräftigen Windböen aus Nordwest, und innerhalb weniger Minuten sank die Temperatur um mehr als zehn Grad. Er stand in der Tür des Wintergartens und schaute zu. Eine schwarzlila Wolkenbank wuchs schnell über den Himmel und warf einen dunklen Schatten auf das Meer. Ein Schauer durchfuhr die Wasseroberfläche, eine bebende Vorahnung, und dann wurde der Horizont von zwei Blitzen, die rasch aufeinander folgten, gespalten. Weit dort draußen pflanzte sich ein dumpfes Grollen fort, tief unter dem Meeresboden, wie es ihm schien, eine Erschütterung, die die Glasscheiben vibrieren und die Prismen der Deckenlampe klirren ließ.
Dann kam der Regen. Er brach los, als wären alle Dämme in ein und dem selben Moment gebrochen, plötzlich waren Himmel und Meer nur noch ein einziges Element. Ein tosender, siedender Hexenkessel voll rasender Wassermassen. In diesen stürzte sich der Sturm. Er schleuderte Wasserkaskaden übers Land, peitschte das Meer und die Wellen bis in die Senkrechte, riss und zerrte an den Krüppelkiefern und raste heulend durch Rinnen und Dachziegel. Es schien, als hätten alle Kräfte nur auf diesen Augenblick gewartet. Als hätten sie sich für diese Nacht aufgespart, in der sie endlich zügellos wüten konnten, gesammelt und formiert.
Als ob alles, was sich vorbereitet hatte, jetzt entladen sollte, dachte er und zog die Tür zu. Marlene kam, stellte sich neben ihn und schaute aufs Meer.
»Eine Gewitternacht«, sagte sie. »Das wird sich nicht vor morgen früh beruhigen.«
Eine neue Entladung ließ den Lampenschein flackern, und er spürte, wie der Fußboden zitterte. Sie fasste ihn am Arm.
»Wir können jetzt essen«, sagte sie. »Ich denke, wir haben reichlich Zeit. Denn heute Abend wird wohl keiner von uns abreisen wollen, oder?«
Draußen in den Flur hatte sie ihre Reisetaschen gestellt, wie er sehen konnte. Groß und entschlossen standen sie dort, jeweils eine links und rechts von der Tür.
Sollte es ihm doch nicht gelingen, ihr nahe zu kommen, bevor alles vorbei war?
Erst später, nachdem sie den Tisch verlassen und sich vors Feuer gesetzt hatten, begannen sie zum letzten Mal an der Vergangenheit zu rühren.
»Hast du verstanden, worum es eigentlich ging?«, fragte sie.
»Vielleicht nicht«, antwortete er. »Ich weiß nicht so recht, was das bedeutet ... etwas zu verstehen. Was meinen wir damit, wenn wir behaupten, wir würden begreifen? Dass uns etwas klar ist ...«
»Ja, natürlich, so kann man es auch sehen.«
Doch sie wartet. Lässt ihn seine Schlüsse
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