Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Flockenleserin. Ein Hospiz, 12 Menschen, ein Mörder.

Die Flockenleserin. Ein Hospiz, 12 Menschen, ein Mörder.

Titel: Die Flockenleserin. Ein Hospiz, 12 Menschen, ein Mörder. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mike Powelz
Vom Netzwerk:
verriet Anne. „Die alte Schwester sagte damals, wenn es einmal so weit käme, dass wir Menschen sterben müssten, reiche es vollkommen aus, diese drei Worte zu sagen – und Gott würde uns alles verzeihen.“
    Serva nickte.
    „Schön, dass Sie so fest glauben, Herr Powelz. Das wird Ihnen viel Kraft geben.“
    „Wie unterscheidet sich das Sterben gläubiger Kranken eigentlich vom Tod Ungläubiger?“, fragte Mike.
    „Ich sehe mich als eine Gotteskämpferin“, erwiderte Serva. „Ich bin eine Gotteskämpferin, die bereits vielen Menschen beim Sterben geholfen hat, indem ich sie darin bestärkt habe, den richtigen Weg zu gehen. Meine Erkenntnis lautet so: Wer mir sein Herz ausschütten möchte und gleichzeitig sagt, ich solle ihm bloß nicht mit Gott kommen , hat nach dem Tod häufiger einen verkrampften Gesichtsausdruck als Gläubige. Menschen, die sich Gott geöffnet haben, wirken entspannter.“ Der Grund für diesen Unterschied, erklärte Serva, könne sein, dass ungläubige Kranke verzweifelt nach einem Sinn suchten, während ihn die Gläubigen bereits gefunden hätten.
    Mikes Vater lächelte selig. Er krempelte sein Schlafanzugoberteil hoch und deutete auf seinen Bauchnabel.
    „Warum machst Du das, Papa?“, fragte Mike.
    „Ich wollte ihn mal zeigen“, antwortete Herbert. Er schlief erneut tief ein und schnarchte sehr laut. 
    „Ihr Vater macht alles richtig“, sagte die Ordensfrau, und stand auf. „Wir Menschen leiden, wenn wir kämpfen. Die Hölle wartet nicht auf uns, wir haben sie bereits auf Erden. Jetzt muss ich gehen. Es ist 17.30 Uhr und ich muss heute noch viele andere Menschen in vielen anderen Häusern besuchen. Ich wünsche Ihnen allen eine gute Nacht!“
    Erst später fiel Mike ein, dass er gern noch über anderen Punkte mit Schwester Serva diskutiert hätte: Wie hatte sie nur behaupten können, die Hölle existiere auf Erden? Warum vermittelte die Kirche den Menschen kein positives Weltbild – und die Hoffnung, dass jeder zu Lebzeiten alles schaffen kann, wenn er nur an sich glaubte? Warum konnte sich ein Kardinal wie Joachim Meisner erlauben, der heute-show -Reporterin Carolin Kebekus auf die Frage, ob sie Päpstin werden könne, öffentlich im Fernsehen zu antworten: Dazu haben Sie nicht die Figur ! Für ihn war das derselbe Schlag ins Gesicht, den seine Mutter als Kind von einem Ahauser Pfarrer bekommen hatte, weil sie in der Kirche getuschelt hatte. Diese Gewalttat erinnerte ihn an den ZDF-Film Und alle haben geschwiegen , der den Missbrauch in christlichen Erziehungsheimen im Nachkriegsdeutschland der Sechziger Jahre aufarbeitete. Glücklicherweise spielten glaubwürdige Schauspieler wie Senta Berger in solchen Fernsehfilmen mit, die Millionen von Fernsehzuschauern ein solches Thema vermitteln konnten.
    Doch im Umgang mit der Krankheit seines Vaters hatte er schon vor dem Hospizaufenthalt etwas Wichtiges gelernt. In Gegenwart von Herbert war es nicht angebracht, Ärzte zu kritisieren, die es unnötig fanden, zwanzig verschiedene Gutachten von Lungenkrebsspezialisten eingeholt zu haben – und genau so wenig sollte man den Arbeitgeber von Schwester Serva hinterfragen.
     
    Im Esszimmer tischte eine ehrenamtliche Mitarbeiterin namens Dorothee die von Kostja zubereiteten Gerichte auf.
    „Kommt Omi immer noch nicht nach unten?“, fragte Marisabel Prinz unwirsch. „Heute nach dem Abendessen schaue ich bei ihr vorbei, um nach dem Rechten zu sehen. Das lasse ich mir nicht ausreden.“ Sie schob ihren Cesar’s Salad beiseite. „Irgendwie ist mir doch nicht danach. Ich hätte lieber Antipasti. Oder ein Ei Benedikt … Können Sie das zubereiten, Dorothee?“
    „Leider nicht, Frau Prinz“, antwortete Dorothee. „Aber ich notiere Ihren Wunsch. Kostja wird Ihnen morgen früh ein Ei Benedikt zubereiten.“
    Marisabel wollte gerade kontern, als es vor Haus Holle knallte. Alle blickten aus dem Fenster und sahen, dass Hildegard Merkel den Poller beim Ausparken gestreift hatte. Eine dicke Beule zierte den Kotflügel ihres Golfs, und die Gäste bemerkten, dass die drollige Dame in die Richtung der Eingangstür hetzte.
    Zehn Sekunden später stand sie mitten im Esszimmer.
    „Kann jemand meinen Wagen ausparken?“, fragte Hildegard aufgeregt. „Wenn das so weiter geht, überlebt mein Auto die Zeit im Hospiz nicht.“
    „Das kann ich später übernehmen“, bot der dicke Dietmar an. „Aber erst muss ich etwas essen. Setzen Sie sich zu uns, Frau Merkel.“
    Die quirlige Hildegard folgte der

Weitere Kostenlose Bücher