Die Flockenleserin. Ein Hospiz, 12 Menschen, ein Mörder.
Unfall lässt sich das nicht bezeichnen“, sagte der Psychologe mit klarer Stimme. „Es war ein natürlicher Tod. Bei ALS-Patienten kann die Lähmung der einzelnen Körperteile so lange voranschreiten, bis der Schluckreflex betroffen ist. Es muss nicht passieren, aber es kann passieren. Das mit ansehen zu müssen, war für alle Anwesenden traumatisch. Andererseits ist das Sterben unserer Gäste in diesem Haus ein natürlicher Prozess, den wir – wie bereits gesagt – nicht ausblenden. Es gibt andere Hospize, in denen der Tod tabuisiert wird. Ich habe mal von einem Fall gehört, der dem, was wir heute Abend erlebt haben, sehr ähnelte. Dort starb auch ein Gast im Esszimmer, während alle anderen Gäste fern sahen, strickten oder sich unterhielten. Plötzlich beobachteten die Pfleger, dass der Kopf einer Frau auf ihre Brust sackte. Heimlich stellten sie den Tod fest. Sie brachten die Leiche aus der geselligen Runde, indem sie so taten, als habe der Gast einen kleinen Schwächeanfall erlitten. Sie wollten die anderen Gäste beschützen. Ich hätte es besser gefunden, wenn man ihnen gesagt hätte: Schaut, wie schnell und friedlich der Tod eintreten kann . Dann hätten die anwesenden Gäste weniger Angst vor dem eigenen Tod gehabt. Es war eine verpasste Chance.“
Andreas Albers legte eine Hand auf Minnies Schulter. „Berthold Pellenhorn war sehr reflektiert. Er wusste, was auf ihn zukam. Für mich war es eine Freude, ihn kennen gelernt zu haben. Wir werden den Toten jetzt in seinem Zimmer aufbahren. Um 21 Uhr gibt es eine Abschiedszeremonie in Zimmer 5. Dazu ist jeder eingeladen. Ich werde die anderen Gäste informieren. Hoffentlich kommen Sie auch, Minnie.“
Zum zweiten Mal brannte die Kerze im Erdgeschoss.
Irgendjemand hatte Bertholds Vornamen auf die Tafel geschrieben und seinen Namen in das Kondolenzbuch eingetragen. Minnie las, was Frau Pellenhorn geschrieben hatte: „ Gemeinsam mit Dir durch den Schnee im Winter Deines Lebens gestapft zu sein, war das schönste Geschenk, das Du mir machen konntest. Du bist die Liebe meines Lebens – ich werde Dich nie vergessen. Deine Barbara .“ Dann musterte sie den zweiten Eintrag: „ Sie haben Licht in dieses Haus gebracht .“ Er stammte von Bruno.
Auch Minnie griff zum Füllfederhalter. „ Ich wünsche Ihnen alles Gute “, schrieb sie mit zittriger Hand.
Die alte Dame ging nach oben und schluckte ihre Morphium-Pille.
In Zimmer 5 war es totenstill. Als Minnie sich zur Abschiedsrunde zu Barbara Pellenhorn und Andreas Albers gesellte, waren bereits alle anderen Gäste da. Annette und Angie hielten sich an den Händen, Marisabel Prinz presste ein besticktes Taschentuch vor ihren Mund, um ein Schluchzen zu unterdrücken. Die Hundezüchterin hatte ihre Perücke wieder aufgesetzt. In der kurzen Zeitspanne, die seit dem Ableben von Berthold vergangen war, musste sie die roten Locken neu aufgedreht und geföhnt haben, denn nichts erinnerte an die empörte, kahlköpfige Frau, die vor wenigen Stunden im Esszimmer geschimpft hatte. Bella Schiffer saß auf einem Stuhl, Adolf Montrésor lehnte am Fenster. Auch Anne und Mike – sowie Mutter Merkel – waren gekommen. Die drollige Dame setzte sich zu Berthold ans Bett und streichelte die Hand des Toten.
Obwohl nur drei Stunden seit dem Todeskampf vergangen waren, sah Berthold völlig verändert aus. Seine Gesichtszüge hatten sich entspannt. Professor Pellenhorn wirkte friedlich. Statt des üblichen Ringelpullovers trug er einen Anzug. Außerdem hatte ihm jemand sein Bundesverdienstkreuz angelegt. Der Mund des Toten deutete ein Lächeln an. Das konnte Minnie nicht verleugnen.
„Was für ein friedlicher Anblick“, sagte die alte Dame laut, ohne sich ihrer Worte bewusst zu sein.
Barbara Pellenhorn sah sie so weltentrückt an, als schwebe sie in einem anderen Kosmos. „Diesen Anzug“, erklärte sie, „hat Berthold an seinem 65. Geburtstag getragen.“
„ Professor Pellenhorn sieht so schön aus“, meinte Bella staunend. „Ob seine Seele noch im Zimmer ist?“
„Bestimmt“, antwortete Mutter Merkel.
Marisabel Prinz räusperte sich. „Glauben Sie daran?“, fragte sie mit großem Ernst. „Ich würde es ja so gern glauben, doch leider gibt es keinen Beweis für die Existenz einer unsterblichen Seele.“
„Doch“, behauptete Bella Schiffer. „Ich habe bereits mehrfach gelesen, dass sich das Körpergewicht direkt nach dem Sterben um 0,2 Gramm verringert. Was – außer einer Seele – kann noch so
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