Die Flockenleserin. Ein Hospiz, 12 Menschen, ein Mörder.
werde Sie nicht vergessen.“
Er fuhr mit Fee und Nadine nach oben.
In Zimmer 11 war es unaufgeräumt. Spielzeug, Kleidung, Aschenbecher und Plastiktüten – alles war wild im Raum verteilt.
„Such’ Dir einen freien Platz“, forderte Nadine den späten Besucher auf, und griff nach ihrem Tabakbeutel. Gekonnt drehte sie sich eine Zigarette.
Mike warf einen Blick auf ein Foto, das Nadine mit Fee zeigte. Darauf waren noch zwei weitere Kinder zu sehen.
Sofort erklärte sich die junge Mutter. „Luca und Saphira sind mir vom Jugendamt weggenommen worden. Ich habe sowas von auf die Sesselpupser eingeredet . Doch sie wollten mir nicht glauben, dass ein Drogi, der schon seit zehn Jahren an der Nadel hängt, nicht mehr aus tickt . Aber die Beamten benahmen sich wie die Öffentlichkeit, die nur das Bild jener Junkies kennt, die mit Spritzen in den Venen in S-Bahnen steigen und um ein paar Mäuse betteln.“
„Opa hat Mama Geld für Drogen gegeben“, rief Fee, die das Gespräch aufmerksam belauschte.
Fragend sah Mike Nadine an.
„Ja, das war eine böse Falle“, erklärte die Kranke. „Ich war damals ziemlich lange clean gewesen. Aber Lucas Opa – meine drei Kids sind von verschiedenen Männern – hatte schon immer was gegen mich. Eines Tages steckte er mir plötzlich Geld zu. Ich sollte mir mal was Schönes gönnen. Also rief ich meinen Dealer an. Mein Schwiegervater sah seelenruhig zu. Als ich mir den Druck gesetzt hatte, informierte er das Jugendamt, das mich in flagranti ertappte.“
„Und dann kam die Geschichte mit dem Fahrrad“, erinnerte Fee ihre Mutter.
„Genau, Schatz“, sagte Nadine. „Dann kam die Story mit dem verdammten Fahrrad.“
Sie wandte sich Mike zu. „Lucas Opa hat ihn nach Oberammergau mitgenommen, wo er nun seit zwei Jahren lebt. Ich konnte meinen Sohn nur noch heimlich in einem Café treffen. Mein Schwiegervater jedoch hatte seine Spione überall. Plötzlich sah er uns auf der Straße. Da hat er Luca vom Fahrrad gezerrt.“
Nadine blickte auf ihre zersplitterten Fingernägel. „In diesem Moment ist etwas in Luca zerbrochen. Und ich musste an den Roman Der kaukasische Kreidekreis denken – und daran, dass wir Mütter lernen müssen, unsere Kinder irgendwann los zu lassen. Seitdem kommt Luca mich manchmal besuchen. Aber er wird immer von seinem Opa begleitet. Ich werde nicht mehr erleben, dass er mal eine Nacht bei mir schlafen darf und wir allein sind.“ Sie weinte nicht und wirkte nicht verbittert. Stattdessen bot sie Mike ein Glas Wein an.
Gemeinsam stießen sie an.
„Weißte was“, sagte Nadine. „Seit eine überregionale Wochenzeitung einen Bericht darüber geschrieben hat, dass Fee und ich hier sind, habe ich neun Blumensträuße von fremden Leuten zugeschickt bekommen. Und einen Gutschein für eine Gratis-Vorstellung im Theater. Und einen Gutschein über 50 Euro für eine Boutique.“
„Und… ich habe eine Barbie bekommen!“, rief Fee.
„Stimmt ja“, rief Nadine. „Eines Tages kam ein riesiges Paket an. Darin waren ein tolles Puppenhaus für Fee und eine Barbie, der man die Beine abnehmen kann. Findest Du es nicht auch komisch, Mike, dass Barbiepuppen immer Latex-Unterwäsche tragen?“
Die junge Mutter grinste. „Später wurden mir die ganzen Anrufe lästig. Immer wieder waren Journalisten an der Strippe, die wissen wollten, wie es mir geht. Deshalb bekam ich eine Geheimnummer. Ich spürte die Neugier der Reporter, und fühlte mich wie eine Kandidatin in einer Castingshow, bei der sich die Zuschauer ausschließlich für den Zeitpunkt des Rausschmisses interessieren. Wobei rauswählen in meinem Fall sterben heißt. Aber ich möchte nicht öffentlich sterben wie Jade Goody aus dem amerikanischen Big Brother -Container, die vor den Augen von Millionen von Zuschauern von ihrer Krebsdiagnose erfuhr und sich bis ans Sterbebett von Kameras begleiten ließ. Deshalb habe ich mich auch gewundert, dass neulich nachts immer jemand anrief.“
„Wann war das?“, forschte Mike nach.
„In der Nacht, als das alte Ehepaar starb“, sagte Nadine. „Ich war früh eingeschlafen, doch das Telefon läutete mich dreimal aus dem Schlaf. Sobald ich abnahm, sagte niemand ein Wort. Durch die Anrufe war ich wieder richtig wach geworden. Also knipste ich das Licht an und sah, dass eine Spritze auf meinem Bett lag. Ich ahnte sofort, dass sie was Gutes enthält. Irgendein Pfleger muss sie liegen gelassen haben. Den Inhalt der Spritze habe ich mir dann in die Vene
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