Die Flockenleserin. Ein Hospiz, 12 Menschen, ein Mörder.
Psychologe die Küche, und eine Viertelstunde später servierte Dorothee warmen Kartoffelsalat mit Würstchen, kalte Platten mit Wurst, Käse und Weintrauben sowie Wasser, Bier und Cola.
Alle griffen beherzt zu.
„Aber darf man“, fragte Marisabel Prinz kauend, „ein Kind hier überhaupt integrieren?“
„Klar“, antwortete ihre Mutter. „Fee ist eine alte Seele, die Netzwerke zu anderen alten Seelen wie Bruno, Berthold und Minnie spinnt. Ich weiß, dass sie schon oft auf der Welt war und alle Geheimnisse unserer Seelen kennt.“
„Darüber hinaus“, ergänzte Dr. Albers, „können Kinder mit dem Tod sehr gut umgehen, wenn man sie lässt. Seit der Moderne werden Kinder fast immer ferngehalten von Sterbezimmern und vor Beerdigungen beschützt. Das sind hilflose Ausweichmanöver, die fatale Folgen haben können. Wenn ein großes Geheimnis um den Tod gemacht wird, und die Kinder gleichzeitig sehen, dass Vater und Mutter zu Tode betrübt sind, betrachten sie den Tod als Feind. In ihrer Vorstellung wird er dann zum Sensenmann und zu einem Unglücksbringer. Mit diesen verschreckten Generationen wachsen wieder Menschen heran, die den Tod tabuisieren.“
Er blickte Fee an. „Wie hat Dir das Kinderbuch gefallen, das ich Dir geliehen habe?“, fragte er das kleine Mädchen.
„Meinst Du das mit der Ente, Doktor Albers? Das war so schön.“
Plappernd erzählte Fee, wie die Ente eines Tages bemerkt hatte, dass der Tod um sie herumschlich und sie ihn fragte, was er von ihr wolle. Daraufhin verriet ihr der Tod, dass er sich in ihrer Nähe aufhielte, falls ihr mal etwas zustieße – zum Beispiel ein Schnupfen oder ein Unfall. Nach und nach freundeten sich die beiden an. Im Hochsommer kletterten sie auf einen Baum – und sahen den Ententeich von oben. „ So ist das also “, imitierte Fee die Entenstimme, „ eines Tages gibt es den Teich – ganz ohne mich . Ich fand das ziemlich traurig, Herr Albers, aber auch schön!“
Lächelnd sah sie der Psychologe an. „ Ente, Tod und Tulpe ist ein preisgekröntes Kinderbuch von Wolf Erlbruch, dessen Lektüre ich jedem Kind, aber auch jedem Erwachsenen, empfehlen kann!“
Minnie war zutiefst beeindruckt. Die alte Dame beobachtete Fees Reaktionen. Das kleine Mädchen streichelte die Wange des Toten und fühlte, ob Professor Pellenhorns Hand kalt war. Dann ordnete sie die Gegenstände, die ihm die Menschen auf sein Bett gelegt hatten. „Alles“, hatte Dr. Albers verraten, „was auf dem Laken liegt, nehmen unsere Gäste mit in den Sarg, wenn sie uns verlassen.“
Auch Minnie schenkte Professor Pellenhorn etwas für die letzte Reise – eine Münze für den Fährmann. Irgendwo hatte sie mal gelesen, dass die Alten Ägypter das taten, damit die Toten von ihm über den Fluss des Vergessens übergesetzt werden konnten. Fluss des Vergessens , das klang so mythisch und romantisch. Irgendwie gefiel ihr der Gedanke, dass es einen solchen Fluss gab.
Nachdenklich betrachtete sie das entspannte Gesicht des toten Professors. „Wirkt, als hätten Sie schon alles vergessen“, flüsterte die alte Dame.
Ihr Blick traf das Fenster. Wie viele Nächte musste Professor Pellenhorn aus seinem Bett nach draußen geschaut haben, wie oft den Mond erblickt haben, während er sich im Reinen gefühlt hatte mit der Natur und seiner Existenz. Doch von Bertholds Position aus ließ sich nicht nur das Oben sehen – sondern auch der Weg vor Haus Holle. Minnie sah die Bank, das Ende des Weges und Hildegard Merkels kaputtes Auto. Und Jugendliche, die Fußball spielten. Ihr Johlen war gedämpft zu hören.
„Mal ganz ehrlich“, sagte Bella. „Wie oft kommt hier eigentlich jemand lebend raus?“
„Ich will Ihnen nichts vormachen“, antwortete Dr. Albers. „Das passiert nicht oft. Bei einem Gast gab es mal den Verdacht auf ein Bronchialkarzinom. Doch er blieb neun Monate lang stabil. Dann stellte sich heraus, dass er weder Metastasten noch Krebs hatte. Er zog in ein Pflegeheim.“
„Davon möchte ich mehr hören“, bat Bella Schiffer.
„Bei einem anderen Gast bildete sich ein Hirntumor wieder zurück. Manchmal kommen auch Menschen mit Aids plötzlich wieder zu Kräften. Doch summa summarum sind diese Spontan-Remissionen verschwindend gering.“
„Kommst Du noch mit uns nach oben?“ Fee zupfte an Mikes Ärmel. „Ich möchte, dass Du mich zudeckst!“
Der Reporter bejahte. Er beugte sich über Professor Pellenhorn und strich dem Toten über die Hand. „Alles Gute, Berthold! Ich
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