Die Flockenleserin. Ein Hospiz, 12 Menschen, ein Mörder.
verdaute Nahrung auf dem falschen Weg heraus. Dann wird sie das Verdaute erbrechen.“
„Kann man das nicht verhindern?“ Mike ekelte sich.
„Doch“, sagte Bruno. „Es gibt ein bestimmtes Hormon, dass man ihr verschreiben könnte. Doch es wird in Deutschland nur bei anderen Leiden eingesetzt. Eine der Nebenwirkungen dieses Hormons ist, dass es das Erbrechen von Verdautem verhindert. Wir müssten einen Sonderantrag für Frau Krause stellen, weil das Hormon viel teurer ist als alle bisherigen Medikamente zusammen. Allerdings dauert die Bearbeitung vier Wochen. So viel Zeit hat Frau Krause nicht mehr. Jetzt merken Sie mal, wie unzureichend die Palliativmedizin vom Staat unterstützt wird. Schreiben Sie doch mal darüber!“
Der Pfleger redete sich in Rage. „Es gibt einen Sterbeforscher namens Gian Domenico Borasio. In seinem Buch Über das Sterben erzählt er die Geschichte einer Patientin im Endstadium, die an einem Tumor im Unterbauch litt und wegen einer Hirnmetastase halbseitig im Gesicht gelähmt war. Als Borasio sie behandelte, schenkte er der Lähmung keine besondere Aufmerksamkeit – weil die Kranke noch sprechen und essen konnte. Seine Patientin jedoch machte ihre Lähmung derart depressiv, dass sie immer introvertierter wurde. Zuletzt sagte sie gar nichts mehr. Daraufhin schloss der Sterbeforscher sie an eine extrem teure Maschine an, deren Strahlen Metastasen punktgenau zerschießen können. Kurz darauf war die Lähmung verschwunden, und die Kranke lachte wieder. Aus ärztlicher Perspektive blieb sie nach wie vor sterbenskrank, doch aus ihrer eigenen Sicht war das Leben wieder lebenswert für sie geworden. Ihre Depression verschwand und sie raffte sich dazu auf, einige wichtige Dinge mit ihrem Mann und ihren Kindern zu besprechen. Kurz darauf starb sie völlig zufrieden.“
Bruno schnalzte mit der Zunge. „Die Krankenkassen geben der Palliativmedizin nur einen Minimalbruchteil ihres Jahresetats. Aber in Hustensaft investieren sie jährlich einen dreistelligen Millionenbetrag.“
Omis Röcheln riss den Pflegehelfer in die Wirklichkeit zurück.
„Ich wollte, ich könnte es schaffen“, sagte die dünne Dame im Tiefschlaf.
Bedeutungsvoll blickte Bruno Mike an. „Im Endstadium lässt sich nichts mehr planen… Sterbende können nur noch reagieren.“
Auch Montrésor war Mike keine Hilfe.
Hinter seinem Uhrglasverband musterte Adolf den Reporter. „Was soll mit Knopinskis Auto gewesen sein?“, fragte er argwöhnisch. „Ich habe nichts gesehen. Wie auch? Ich kann mich nicht mal daran erinnern, dass ich nackt auf der Bank gesessen haben soll.“
Geschickte umschiffte Mike die Klippe.
„Fuhr der alte Knopinski noch häufig?“
„Anfangs ja“, sagte Montrésor. „Dann jedoch wurde er ein paar Mal von Mutter Merkel zugeparkt. Deshalb hat er sie im Esszimmer beschimpft.“
„Warum hat Knopinski nicht woanders geparkt?“
„Warum interessiert Sie das so?“ Plötzlich war Adolf auf der Hut. „Ist was passiert?“
„Vielleicht“, gestand Mike. „Wenn Knut Knopinski am Tag vor seinem Tod mit seinem Auto unterwegs gewesen wäre, würde das einiges erklären.“
„Hmmmm“, brummte Adolf. „Lassen Sie mich mal nachdenken… Ich weiß noch, dass ich sein Auto sah. Ja, ich blickte sogar hinein. Schließlich weiß man nie, was Menschen wie Knopinski, von dem ich wirklich nichts Gutes dachte, vor der Öffentlichkeit verbergen. Aber im Wageninneren war nichts Besonderes zu sehen. Nicht mal auf dem Rücksitz lag etwas. Weder ein Liebespaar noch meine Frau…“
„Sie haben Ihre Frau in seinem Auto vermutet?“
„Man weiß ja nie“, erwiderte Adolf. „Manchmal bin ich ein bisschen eifersüchtig. Schließlich habe ich in meinen besten Zeiten selbst nichts anbrennen lassen. Vielleicht revanchiert sich meine Frau ja jetzt dafür? Wenn ich heute etwas bereue, dann ist es, dass ich meine Frau so oft betrogen und nicht mehr Zeit mit ihr verbracht habe.“
„Mit dieser Reue liegen Sie voll im Trend“, entgegnete ihm Mike. „Gerade habe ich eine Reportage über eine Australierin namens Bronnie Ware gelesen, die unzählige Menschen beim Sterben begleitet hat. Nachdem sie das jahrelang gemacht hatte, gewann sie die Erkenntnis, dass fast alle Menschen dieselben fünf Dinge am Lebensende bereuen.“
„Welche?“
„Die meisten Sterbenden bereuen, dass sie nicht getan haben, was sie wollten“, antwortete Mike, „und dass sie sich nicht selbst treu geblieben sind.“
Der Ex-Manager
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