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Die Flockenleserin. Ein Hospiz, 12 Menschen, ein Mörder.

Die Flockenleserin. Ein Hospiz, 12 Menschen, ein Mörder.

Titel: Die Flockenleserin. Ein Hospiz, 12 Menschen, ein Mörder. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mike Powelz
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blinzelte ihn an.
    „Aber wir Männer sind nun mal nicht auf Monogamie programmiert, oder? Ich habe immer an die Liebe geglaubt. Aber irgendwann hat der Sex den Glauben an die Liebe abgelöst. Sex und Liebe – das waren plötzlich zwei verschiedene Dinge. Heute weiß ich, dass das ein Fehler gewesen ist. Was ist die zweitgrößte Reue?“
    „Sie bezieht sich auf das, was Sie vorhin gesagt haben. Sterbende bereuen fast immer, dass sie sich zu stark auf ihren Beruf konzentriert, und nicht genug Zeit mit ihrer Familie verbracht haben.“
    „Das könnte genau so gut auf Frau Prinz zutreffen“, meinte Montrésor. „Haben Sie das schlechte Verhältnis zu ihrer Tochter bemerkt? Und dass sie immer über Leistung redet?“
    Wissbegierig lehnte er sich vor und legte sein langes Haar fahrig über den verbeulten Schädel. „Was ist die dritte Reue?“
    „Dass den Menschen der Mut fehlte, um ihre wahren Gefühle zu zeigen.“ Mike dachte an Omi und an ihren verzweifelten Kampf gegen den Tod. Ob es ihr leichter fallen würde, das eigene Sterben zu akzeptieren, wenn sie sich mit ihrer Tochter aussprechen würde? Liebe war ein Fremdwort für die spindeldürre Dame. Anscheinend hatte es in ihrem Leben hauptsächlich hässliche Dinge gegeben. Es waren Erlebnisse, die sich als schmutzige Phantasien verkleideten.
    „Ich habe meine Gefühle immer gezeigt“, sagte Adolf. „Diesen Schuh muss ich mir nicht anziehen. Was ist die vierte Sache?“
    „Viele Menschen bereuen, dass sie den Kontakt zu ihren Freunden nicht ausreichend gepflegt haben“, entgegnete Mike, „sondern sich irgendwann von ihnen entfremdeten – aus Faulheit oder Oberflächlichkeit.“
    „Freunde…“ Montrésor ließ das Wort ausklingen. „Stimmt, mich besucht so gut wie keiner. Dabei hatte ich wirklich ein gutes Verhältnis zu den meisten meiner Arbeitskollegen. Aber irgendwann im Laufe des Lebens habe ich die meisten Freunde aus den Augen verloren. Einer zog in eine neue Stadt, der nächste wurde Familienvater, mit einigen gab es Streit, andere starben. Wie schön es jetzt wäre, Freunde zu haben.“
    Sein gesundes Auge fixierte den Journalisten. „Ich bin gespannt, was die letzte Reue sein soll!“
    „Dass man es sich nicht selbst erlaubt hat, zufrieden zu sein.“
    „Verstehe ich nicht“, meinte Adolf. „Man ist doch seinen Weg gegangen.“
    „Ja – aber ist man auch wirklich zufrieden?“
    „Naja, meine Frau liegt im Krankenhaus, und ich werde sterben… Wie kann ich da zufrieden sein?“ Der Kranke runzelte die Stirn.
    „Ich glaube, damit ist gemeint, dass man seinen Weg konsequent geht und richtig lebt, solange man gesund ist“, sagte Mike. „Und, dass wir uns nicht von Geld, Drogen, Karriere und den Forderungen anderer ablenken lassen, sondern das machen, was wir möchten. Nicht kompromisslos, aber konsequent.“
    „Hedonismus, was?“, sagte Adolf  lachend.
    Der Journalist widersprach ihm. „Ich meine kein Leben, das eine einzige Party ist, sondern dass man auf seine innere Stimme hört – und sich ständig bewusst macht, dass die Lebenszeit begrenzt und viel zu wertvoll ist, um sie mit dem falschen Partner, dem falschen Job und den falschen Menschen zu vergeuden.“
    „Das lässt sich jetzt leicht sagen“, knurrte Adolf. „Schließlich geht es nicht nur ums Leben, sondern auch ums Überleben. Ich kann mir keinen Menschen vorstellen, der in meiner Situation zufrieden wäre.“
    „Berthold Pellenhorn hat es geschafft, zufrieden zu sein“, insistierte Mike. „Er hat völlig in sich geruht.“
    „Wer weiß“, zweifelte Adolf . „Am Ende schien er traurig gewesen zu sein. Und dann der schreckliche Unfall! Gestorben an einem Stück Parmesankäse… Das muss man sich mal reinziehen.“
    „Ich glaube auch, dass Professor Pellenhorn etwas auf der Seele gelastet hat“, sagte Mike. „Und dass er sich nicht mehr mitteilen konnte. Trotzdem muss er, als er noch gesund war, ein unglaublicher positiver Mensch gewesen sein. Einmal habe ich gelesen, dass wir Menschen stets zu unserem normalen Aggregatzustand zurückfinden – egal, was passiert. Wer immer zufrieden war, bleibt es auch, wenn er nach einem Autounfall gelähmt ist. Angeblich können zufriedene Menschen besser mit Schicksalsschlägen umgehen als unzufriedene.“
    „Aber wie verhält es sich umgekehrt?“
    „Menschen, die tendenziell unzufrieden sind, bleiben es meistens auch – selbst nach einem Lottogewinn“, sagte Mike, „außer, jemand leidet unter Traumata oder

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