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Die Flockenleserin. Ein Hospiz, 12 Menschen, ein Mörder.

Die Flockenleserin. Ein Hospiz, 12 Menschen, ein Mörder.

Titel: Die Flockenleserin. Ein Hospiz, 12 Menschen, ein Mörder. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mike Powelz
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Kai Bergmann abgeführt worden wäre.
    Manchmal schmiss Mick eine Party in der gemeinsamen Wohnung. Dann kamen jede Menge Leute – und viele Frauen. Rudi kannte jeden Namen: Die blonde Anne, die er schon im Pförtnerhäuschen der Kartoffelkiste bewundert hatte und nach der er seinen zweiten Wellensittich benannt hatte, um in ihrer Gegenwart ungeniert Anne, gib Küsschen! rufen zu können, die nette Bettina, die kleine Manuela und die traurige Stephanie. Allen erzählte er von seinen Reisen und bot ihnen Klümpchen – das waren klebrige Bonbons – an.
    Dank der Liebe zu Anne widerstand er sogar drei alten Witwen, die im selben Haus lebten, und einen saubereren Menschen aus ihm machen wollten. Einen Menschen, der den vollen Aschenbecher nicht aus dem Fenster kippte. Einen Menschen, der keine Tauben fütterte und anderen nicht den Einkaufswagen in die Hacken schob. Einen Menschen, der keine Schale voller Knoblauchsauce auf Partys austrank, obwohl sie so lecker schmeckte. Einen Menschen, der kein rohes Mett verzehrte und anschließend mit einem Mundausschlag im Bett lag. Und einen Menschen, der den Abfall nicht im Klo herunterspülte, bis es verstopft war.
    „Alte Glucken“, sagte sich Rudi, wenn er allein in der Badewanne planschte und dabei fröhlich juchzte. Er liebte nur Anne.
    Weil seine Gefühle nicht erwidert wurden, freute er sich diebisch, als Anne von ihrem jüngeren Freund verlassen wurde. Er stempelte sie als hochnäsig ab. Er konnte sich partout nicht vorstellen, dass ihn Anne abstoßend fand – ihn und seinen alten Anzug.
    Tanja hingegen, die war ganz anders. Sie hatte riesengroße Brüste und die dicksten Lippen der Welt. Rudi wusste selbst nicht, woher er sie kannte. Aber eines Tages flatterte eine Postkarte in den Briefkasten – und sie war an ihn gerichtet. Lieber Rudi!, las Mick ihm vor. Ich bin gerade in Amsterdam. Ich bin immer total geil auf Dich. Ich will Dich vögeln, bis der Arzt kommt. Bald werde ich Dich besuchen. Für immer… Deine Tanja .
    Herr Weiß musterte die Postkarte. Auf der Vorderseite war eine dralle Blondine mit entblößtem Busen zu sehen, die sich an einer Stange rieb, untenrum nackt war und an einem Penis leckte.
    „Wer ist das?“, fragte er Mick erstaunt.
    „Keine Ahnung“, sagte sein Mitbewohner. „Aber die Karte lag im Briefkasten.“
    Rudi wartete tagelang auf Tanjas Rückkehr. Leider kam sie nie. Dafür schrieb sie ihm unzählige weitere Postkarten. Ich muss um die ganze Welt reisen, Liebling , notierte sie in ihren Zeilen, aber ich denke nur an Dich. Wir sind für immer ein Liebespaar .
    Mick las ihm jede Karte vor.
    Das gab Rudi die Hoffnung, dass Tanja wirklich existierte.
    Außerdem schwor Mick Stein und Bein, dass er Tanja gesehen hatte. „Tanja fuhr in einem knallroten Flitzer vor unserer Wohnung vor. Sie läutete, rannte nach oben und rief: Wo ist mein heißer Rudi, den ich so sehr vermisst habe? Anschließend musste sie sofort wieder weg…“
    Rudi war überglücklich.
    Tanja existierte! Sie liebte nur ihn. Endlich hatte er jemanden gefunden – und dann auch noch eine saugeile Frau. Er ließ die Playboy-Fotos hängen, riss Lady Diana von den Wänden und heftete Tanjas Karten an die Tapete.
    Ein halbes Jahr später beendete Mick sein Studium und zog in eine andere Stadt. Vorher fädelte er einen Trick ein, dank dem Rudi die Wohnung allein behalten konnte.
    Vor seinem Auszug schenkte Mick Rudi einen großen Esstisch, zwei Stühle und seine Sittiche.
    Rudis Zucht florierte schnell. Bald schon flogen fünfzehn, nein, er konnte die Vogelschar längst nicht mehr zählen, Wellensittiche durchs Wohnzimmer. Die Tiere vermehrten sich mit rasender Schnelligkeit. Sie brüteten in Schränken und Ecken, sie nisteten in der Küche, auf Regalen und im Bad – ja, sie waren überall. Alles war wieder laut. Überall piepste es.
    Kurz darauf kam der böse Husten. Und es kratzte arg im Rachen. Rudi war das scheißegal. Die Vögel brüteten, er hatte Tanja, er besaß eine Wohnung, jetzt war er wer .
    Dass er krank war, merkte er gar nicht.
    Wohl aber sein Vermieter.
    Im Krankenhaus erklärte ihm eine blonde Ärztin, die nicht so gut aussah wie Tanja, dass er bald umziehen müsse.
    Jetzt war es so weit und er betrat sein neues Reich.
    Zimmer 1.
    D as erste im Haus.
    „Das ist keine Kartoffelkiste, sondern ein schöner, sauberer Raum“, sagte Rudi zu dem einzigen Wellensittich, den er behalten durfte.
    Der alte Vagabund beschloss, die rothaarige Hundetante und die

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