Die Flockenleserin. Ein Hospiz, 12 Menschen, ein Mörder.
zueinander.
Marisabel indes war mehr als empört. Nicht nur, dass ihre Lieben – sie zählte neben Annette und Omi plötzlich auch Bella Schiffer dazu – allesamt in ihren Betten ruhten, nein, außerdem hatten sich die Machtverhältnisse am Tisch zu ihren Ungunsten verschoben. „Wir sollten uns über die beiden beschweren“, flüsterte sie Minnie zu. „Wir müssen dem Psychologen verraten, dass hier neuerdings schon am Vormittag Alkohol konsumiert wird.“
Leider hatte Herr Weiß nicht nur große Elefantenohren, sondern auch ein feines Gehör. „Nein, nein, nein“, rief er lachend, „Sie sollten selbst was mittrinken. Wollen Sie nicht auch ein Bier? Und vielleicht eine Zigarette?“
„Das wäre noch schöner“, konterte die Hundezüchterin. „Sehe ich vielleicht aus wie eine Trinkerin? Und Rauchen schadet der Gesundheit.“
„Ja, ja, die Gesundheit“, sagte Montrésor nachdenklich, als Marisabel am Tisch eingenickt war. „Es kann so schnell vorbei sein mit ihr. Der Tod kann jederzeit zuschlagen!“
Rudi Weiß nickte. „Im Fernsehen“, meinte er, „läuft eine Sendung, in der gezeigt wird, wie Menschen sterben. Bei D-Max. Die ist so toll!“
„Sie kennen 1000 Wege ins Gras zu beißen ?“, fragte Adolf. „Das gucke ich auch immer!
Die alten Herren begannen ein Gespräch über ihre Lieblingssendung. Nachdem sie einige Anekdoten über skurrile Todesfälle ausgetauscht hatten, fror Minnie. Die alte Dame war sich sicher, dass sie sich die gruselige Sendung, in der der Tod zur Schau gestellt wurde, niemals im Leben anschauen würde. Anscheinend drehte sich in 1000 Wege ins Gras zu beißen alles ums Sterben und darum, wie plötzlich der Tod zuschlagen konnte. Jedes Mal ging es um Menschen in einer normalen Alltagssituation, die sich plötzlich als tödlich entlarvte.
„… und dann die Geschichte mit dem Whirlpool“, sagte Adolf gerade. „Da gab es ein Pärchen, das abends badete. Die beiden hatten jede Menge Alkohol getrunken und merkten nicht, dass der Temperaturregler des Pools defekt war. Im Wasser wurde es immer heißer. Zuerst waren die zwei lediglich benebelt, doch durch die Cocktails und die Wärme wurden sie immer schlapper und schliefen schließlich sogar ein. Das Ende vom Lied: Sie wurden gebrutzelt wie Hummer im Kochtopf.“
Rudi klatschte in die Hände und schlackerte mit den Ohren.
Dann erzählte er seine Lieblings-Episode. „Da waren zwei olle Weiber in den USA, die sich um eine Parklücke vor einem Supermarkt stritten. Eine hatte der anderen den Platz vor der Nase weggeschnappt. Sie gingen aufeinander los. Sie zogen sich an den Haaren, schubsten und keiften sich an. Irgendwann sprang Frau Nummer 1 auf Frau Nummer 2 los – wie ein Vogel im Anflug. In diesem Moment trat Frau 2 zur Seite – und Frau 1 landete mit dem Brustkorb auf dem Auto. Genau auf einem abgebrochenen Mercedesstern.“ Rudi kicherte irre.
„Ich hab auch eine Lieblingsepisode“, entgegnete Montrésor. „ Stellen Sie sich ein Camp voller Jugendlicher vor, die tanzen und Ecstasy konsumieren. Diese Droge dehydriert den Körper total. Irgendwann bekommen die Berauschten unvorstellbar großen Durst. Eine der vollgedröhnten Jugendlichen schnappt sich daraufhin den nächstbesten Wasserkessel und schluckt alles, was drin ist, hinunter. Im nächsten Moment fällt sie tot um. Leider hatte sie im Vollrausch vergessen, dass der Kessel gerade erst von der Feuerstelle genommen worden war – und dass das Wasser in ihm so kochend heiß war, dass es noch brodelte. Es hat ihre Speiseröhre schlagartig zersetzt.“
„Meine Herren“, sagte Dr. Albers, der während Montrésors Erzählung das Esszimmer betreten hatte, „ich bitte Sie, hier nicht so zu reden. Es könnte die Gefühle der Anwesenden verletzen!“ Der Psychologe warf einen zweifelnden Blick auf Minnie und die schlummernde Marisabel.
„Nicht doch“, winkte Minnie ab. „Ich finde das Thema interessant.“
Andreas seufzte. „Es ist auch verständlich. Sendungen wie diese bauen Druck ab. Der Fachbegriff dafür heißt Angstlust. Wenn wir einen Kriminalroman über einen Serienmörder lesen oder einen Horrorfilm schauen, geben wir unsere Sicherheit kurzzeitig auf – und bekommen sie zurück, sobald der Nervenkitzel vorbei ist. Wenn Sie sich 1000 Wege ins Gras zu beißen im Fernsehen anschauen, nimmt Ihre Psyche das als lebensbedrohlich wahr. Nachdem die Folge aber vorbei ist, und Sie sich auf Ihrem sicheren Sofa wiederfinden, werden Glückshormone
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