Die Flockenleserin. Ein Hospiz, 12 Menschen, ein Mörder.
naschte ein wenig.
Er stakste langsam auf das Bett zu.
Wie sanft die dünne Dame schlief.
Wie schön sie dabei lächelte.
Wie gelb sie aussah und wie klein – während sich in ihrem Kopf bedeutungsvolle Dinge ereigneten.
Wie rasch sich ihre Brust hob und senkte.
Wie leicht ihr Mund geöffnet war.
Wie schön, dass sie kein Kunsthaar mehr trug.
Sie würde ihn nicht beim Schlafen stören.
Gekonnt sprang das Tier über das Bettgitter.
Der Kater legte sich neben Omis Kopf. Das war der schönste Platz auf dem Laken. Er streckte seine kleine Zunge aus und leckte der dünnen Dame einmal über die Stelle, wo früher Haare gewesen waren. Diese Berührung und Nepomuks warmer Körper vertrieben Omis Angst.
Alle Menschen konnten schlafen, wenn ein kleiner Kater da war. Sein Schnurren machte sie glücklich.
Er würde die dünne Dame, die sich so sehr nach Liebe sehnte, nicht allein lassen.
Er würde niemanden allein lassen.
Die Geschichte von Rudi Weiß
Rudi Weiß bezog Zimmer 1 am 12. Dezember. Er folgte auf Omi.
Die Kerze der dünnen Dame war längst abgebrannt. Trotz einer mehrwöchigen Freundschaft hatten sich nur Marisabel, Adolf und Minnie von der Toten verabschiedet. Allen anderen Gästen ging es schlecht.
Davon jedoch ahnten weder Rudi Weiß noch sein blau-weißer Wellensittich Ken etwas.
Der 67-Jährige war aus einer völlig verwahrlosten Wohnung voller Vögel befreit worden.
Haus Holle kam ihm völlig vereinsamt vor. Bis auf das Beten eines Mannes im oberen Stockwerk und dem leisen Gezeter eines offenbar auf irgendjemanden eifersüchtigen Weibes hörte er keinen anderen Gast.
Nur eine Dame mit roten Locken saß allein im Esszimmer. Außerdem begegnete ihm eine schrecklich bleiche Frau im Flur.
Die Stille gefiel Rudi. Schließlich war es in seinem ganzen, bisherigen Leben laut gewesen. Zum ersten Mal war Lärm erklungen, als er als Fünfjähriger mit seiner Oma und seinen Eltern am Abendbrottisch gesessen hatten, fremde Männer plötzlich die Tür aufstießen, seine Familie erschossen und er im Unterhemdchen über nackte Felder fliehen musste.
Auch im Bergwerk war es laut gewesen, obwohl er und seine Kollegen sich jahrelang tief unter der Erde befunden hatten.
Und in der Großküche, in der er als älterer Mann als billige Arbeitskraft gearbeitet hatte, war es ebenfalls laut gewesen. „Entmündigt! Nicht lebensfähig!“ All das waren laute Rufe, die ihm sein Vormund täglich entgegenschrie.
Bis er im Männerwohnheim, das er Kartoffelkiste getauft hatte, gelandet war. Dort lebten lauter Alkoholiker – und die waren, natürlich , auch laut gewesen.
Zugegeben, Rudi Weiß konnte kaum lesen oder schreiben, aber er war trotzdem anders als die anderen Alkoholiker. Er fühlte sich anders, auch wenn das niemand erkannte – erst recht nicht der Osterhase , der in Wirklichkeit Herr Ostermann hieß und Rudis Bundesknappschaftsrente komplett eingestrichen hatte. Einmal pro Woche, jeweils am Montag, hatte der Osterhase Rudi 35 Mark ausgezahlt. Der Rest floss in die Kasse des lauten Heims.
35 Mark waren nicht viel, wenn man gern trank. Oder sich mal den Anzug reinigen lassen wollte, der längst voller Pissflecken war. Rudi trug ihn trotzdem immer, um sich von den anderen Männern abzugrenzen.
Jahrelang klammerte er sich an einen einzigen Gedanken: „Ich komme hier raus.“ Er sollte Recht behalten.
Eines Tages zog ein Zivildienstleistender in die Kartoffelkiste, der 18 Monate lang Pfortendienst im Männerwohnheim verrichten musste. Der Osterhase hielt nicht viel von dem jungen Mann, der, sobald die Chefs gegangen war en, seine Freunde im kleinen Pförtnerraum empfing.
Rudi hingegen beobachtete die jungen, lachenden Menschen gern. Besonders eine Besucherin… Manchmal nach Feierabend, wenn die Chefs außer Haus waren, kam eine blonde Frau ins Pförtnerhäuschen, um den neuen Zivildienstleistenden zu besuchen. Sie gefiel Rudi außerordentlich. Sobald sie auf dem Besucherstuhl saß, schlich er sich besonders oft an der Pforte vorbei und murmelte Hallo durch das geöffnete Glasfenster.
Höflich hatte er sich dem jungen Zivi an dessen ersten Arbeitstag vorgestellt und ihm verraten, dass er nur vorübergehend im Männerwohnheim lebe. „Bald bin ich hier raus“, sagte Rudi damals.
Schneller als gedacht jedoch waren 18 Monate Zivildienstzeit vergangen, und der Dienst des jungen Mannes war beendet. „Bald komme ich auch raus hier!“, sagte Rudi Weiß zum Abschied. Er unterdrückte eine
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