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Die Flockenleserin. Ein Hospiz, 12 Menschen, ein Mörder.

Die Flockenleserin. Ein Hospiz, 12 Menschen, ein Mörder.

Titel: Die Flockenleserin. Ein Hospiz, 12 Menschen, ein Mörder. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mike Powelz
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währenddessen Gesellschaft geleistet. Geht es Ihnen endlich besser? Ihre Töchter haben angerufen. Sie sitzen an den Flughäfen in Frankreich und England fest. Der Wetterumschwung ist enorm.“
    Tatsächlich fielen Millionen von Flocken vom Himmel. Die ganze Welt war weiß geworden.
    „Schnee“, flüsterte die alte Dame. „Wie lange habe ich diesmal geschlafen?“
    „Es ist erst 19.45 Uhr“, antwortete Ruth. „Gleich kommt der Schmerztherapeut zu Ihnen. Dr. Coppelius war bereits zweimal da. Man will Ihre Morphiumdosis erhöhen.“
    „Wieso bleiben Sie überhaupt bei mir?“ Die alte Dame war erstaunt.
    Ruth räusperte sich. „Warum nicht? Ich habe Zeit. Außerdem arbeite ich bereits seit acht Jahren ehrenamtlich, und lese älteren Menschen in Pflegeheimen aus Büchern vor. Jetzt kommt das plötzlich wie ein Geschenk zu mir zurück, denn es ist mir vertraut und gibt mir Halt in dieser… in dieser auch für mich ungewohnten Situation. Wenn Sie mögen, werde ich noch etwas bei Ihnen bleiben. Und wir betrachten zusammen die Schneeflocken…“
    „Die Flocken“, sagte Minnie erstaunt. „Unglaublich! Es sind so viele!“
    Die Augen der Damen wandten sich zum Fenster.
    Millionen von Formen fielen vom Himmel.
    „So mag ich sie am liebsten“, sagte Ruth. „Groß, flauschig und strahlend weiß. Sie sind nicht zu zählen. Trotzdem ist jede von ihnen einzigartig. Würde man sie unter einem Mikroskop betrachten, wäre man erstaunt, wie individuell die Eiskristalle aussehen.“
    „Außerdem erscheint plötzlich alles in einem anderen Licht“, fügte Minnie leise hinzu.
    „Ich habe Schnee immer geliebt“, verriet ihr die hässliche Dame. „Wenn ich morgens aufwachte, und die ganze Landschaft weiß war, wirkte alles unschuldig – wie ein Mantel des Vergessens, der den ganzen Schmutz bedeckte.“
    Plötzlich wurde ihr hässliches Gesicht durch ein Lächeln verwandelt. „Wussten Sie, dass man Schnee theoretisch sogar hören könnte? Wenn unsere Ohren besser ausgestattet wären, würden wir vernehmen, dass eine Flocke, wenn sie mit ihrer flachsten Seite auf die Wasseroberfläche fällt, einen schrillen Ton erzeugt. Die Frequenz liegt bei 50 bis 200 Kilohertz.“
    „Tatsächlich?“ Das hatte Minnie noch nie zuvor gehört.
    Stumm starrten die beiden Frauen nach draußen.
    Ruth brach das Schweigen. „Während Sie schliefen, habe ich etwas Seltsames bemerkt. Ihre Hände waren pausenlos in der Luft unterwegs. Sie hätten mal sehen sollen, wie schnell sich Ihre Finger bewegt haben – als wollten Sie nach den Schneeflocken greifen. Als würde es im Zimmer schneien! Erinnern Sie sich noch daran?“
    Minnie verneinte. Sie hatte einfach gut geschlafen. Trotzdem wollte sie mehr über ihre Schlafwandelei wissen. Glücklicherweise erwies sich Ruth als eine exzellente Beobachterin.
    „Sie haben seltsame Dinge gemurmelt, Minnie. Einmal sagten Sie etwas von Spiegeln, später murmelten Sie Berthold . Es wirkte, als wollten Sie etwas ordnen, als würden Sie unsichtbare Teile aus der Luft greifen und sie neu zusammensetzen wollen. Fast wie ein Puzzle!“
    „Dieses Phänomen nennt sich Krozidismus“, sagte eine männliche Stimme. Dr. Coppelius, der Schmerztherapeut, war in Zimmer 6 hinein geschneit. Er setzte sich auf Minnies Bettkante. „Krozidismus heißt auf Deutsch Flockenlesen. Dieser Prozess kann sich ereignen, wenn ein Mensch im Delirium oder im Sterben liegt. Auf Außenstehende wirkt das Flockenlesen so, als griffen die Hände des Sterbenden nach über dem Bett schwebenden, unsichtbaren Dingen. Innerlich jedoch scheinen die Menschen spannende Sachen zu sehen.“
    „Wie der Film des Lebens , der angeblich vor dem inneren Auge der Sterbenden abläuft?“, fragte Minnie entgeistert. „Etwas in Zeitlupe, das viele Menschen als verwirrend empfinden? Eine Nahtod-Erfahrung, bevor man auf einen hellen Tunnel zurast?“
    „Mir fällt es selbst schwer, das einzuordnen“, gestand der Arzt aufrichtig. „Ich glaube, dass das Flockenlesen zu jenen Dingen gehört, die man selbst erlebt haben muss, bevor man sie anderen erklären kann. Wie gesagt: Äußerlich ist es nur ein zittriges und ruheloses Herumfingern über der Bettdecke.“
    „Das erinnert mich an eine Passage aus einem Buch, das ich mal gelesen habe“, bemerkte Ruth. „In dem Roman wird geschildert, dass Sterbende innerlich die undenkbarsten Gedanken haben, die von frühesten Kindheitserinnerungen übergehen in ein Erkennen größerer Zusammenhänge – während

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