Die Flockenleserin. Ein Hospiz, 12 Menschen, ein Mörder.
seiner Mutter versprochen hatte, ihr dereinst ein Zeichen von oben zu geben, wenn er gestorben sein würde. Als Herbert vor einigen Wochen von seiner aussichtlosen Lage erfahren hatte, bat er seine Frau, eine brennende Kerze auf den Kamin zu stellen, sobald er tot sein würde. „Ich werde sie irgendwann ausblasen, um Dir zu beweisen, dass ich noch da bin“, hatte Herbert damals gesagt. Inzwischen waren viele Wochen vergangen, und sein Vater lag im Sterben. Ob er sich immer noch an die Kerze erinnerte? Mike beschlich das Gefühl, dass sein Vater – jetzt wo der Tod näher gerückt war – weniger denn je über das Ende reden wollte. Herberts Verhalten wirkte plötzlich so, als habe er nur deshalb so locker über den Tod und das Sterben und die Muttergottes reden können, weil er sich im tiefsten Herzen gar nicht vorstellen konnte, dass er wirklich sterben musste. Dieses Ve rhalten erinnerte ihn an Martin Walsers Unvorstellbarkeit des eigenen Ausgelöschtwerdens .
Die Stimme der Hundezüchterin riss ihn in die Wirklichkeit zurück. „Wie kommt Ihre Freundin, die alte Minnie, eigentlich mit dem Sterben klar?“, fragte Marisabel. „Wenn man so alt ist wie eine Schildkröte, ist es bestimmt einfacher, los zu lassen, oder? Übrigens möchte ich Sie ermahnen, Minnie nicht mehr allein zu lassen. Vor zwei Wochen ist sie fast auf der Parkbank vor dem Haus eingeschlafen. Ich konnte im letzten Moment verhindern, dass ihr ein Obdachloser die Handtasche stahl.“
Mike stellte sich Minnie vor. Er wusste, dass sie den Tod ebenso wenig akz eptieren konnte wie Marisabel. „Loszulassen zu können ist keine Frage des Alters“, antwortete er und zeigte Frau Prinz einen letzten Artikel, indem er zum Focus griff. „Lesen Sie mal das Interview Näher kann der Tod nicht kommen mit Marcel Reich-Ranicki, der immerhin schon über 90 Jahre alt ist und jetzt gegen den Prostata-Krebs kämpft. Auf die Frage, ob ihm die Literatur dabei helfe, mit dem Gedanken an den eigenen Tod fertig zu werden, antwortete er: Mit dem Gedanken an den Tod kann man nicht fertigwerden. Er ist völlig sinnlos und vernichtend. Es gibt Menschen, die sich selbst töten, wie Kleist, Tucholsky, Hemingway. Sie wollen nicht mehr leben. Aber ich bezweifle, dass sie mit dem Tod fertiggeworden sind. Sich mit dem Tod auszusöhnen, ist unmöglich. Der Gedanke daran ist eine Qual, daran ist nichts zu ändern.“
Die Hundezüchterin wirkte ernüchtert. „Es ist also völlig egal, wie alt man wird? Man versöhnt sich niemals mit dem Gedanken ans eigene Sterben? Dann kann ich ja wieder aufstehen.“
Sie schwang die Beine aus dem Bett, klappte aber schon im nächsten Moment zusammen.
Mike fing sie gerade noch rechtzeitig auf.
„Ui, mir ist schwindlig“, sagte Marisabel. „Ich bleibe doch besser liegen… Hach… das hätte ich nicht vermutet… Ich bin tatsächlich bereit. Ich bin wirklich fertig. Weihnachten möchte ich gar nicht mehr erleben.“
Die große und die kleine Frau
Die kleine Frau kam aus Kolumbien und hieß Estefania. Sie war erst 19 Jahre alt, doch ihre Jugend hatte sie nicht vor dem Tumor in ihren Eierstöcken beschützen können.
Weil Estefanias Krebs inoperabel war und bereits gestreut hatte, blieb den Ärzten nur eine Wahl: Sie mussten die Schmerzen der Latina mit Morphium lindern. Bevor Estefania ins Hospiz kam, wurde ihr Baby abgetrieben. Das war aber noch nicht alles. Estefania wusste nicht, wer der Vater ihres ungeborenen Kindes war. Solange sie gesund gewesen war, hatte die atemberaubende Frau noch auf Zeit spielen können – und drei möglichen Erzeugern Lügen erzählen können. Nun saßen Alejandro, Fernando und Roberto geschockt im Esszimmer des Hospizes. An Estefanias Krankenhausbett waren sie zum ersten Mal aufeinandergetroffen, und sich sofort an die Kehlen gegangen. Inzwischen war die Beziehungsbombe entschärft. Estefania war eine Circe , der kein Mann lange böse sein konnte. Dunkler Teint, tiefschwarze Augen, lange Locken und die vollsten Lippen der Welt: Niemand konnte die Augen von ihrem Mund, ihrer üppigen Oberweite und ihrer Wespentaille abwenden. Das traf auch auf Adolf und Rudi zu, die die Latina und ihre drei heißblütigen Verehrer nicht aus den Augen ließen. Rudi leckte sich die Lippen und schlackerte mit den Ohren. Das Leben in der Kartoffelkiste gefiel ihm von Tag zu Tag besser.
Die große Frau hieß Ruth. Anders als Estefania war sie keine Schönheit. Zu viele männliche Hormone , dachte Minnie, und stellte
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