Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Flockenleserin. Ein Hospiz, 12 Menschen, ein Mörder.

Die Flockenleserin. Ein Hospiz, 12 Menschen, ein Mörder.

Titel: Die Flockenleserin. Ein Hospiz, 12 Menschen, ein Mörder. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mike Powelz
Vom Netzwerk:
kennst.“
    „Glaubst Du wirklich, dass alles gut wird, wenn wir selbst gut sind? Dass es so einfach ist?“
    „Ja“, flüsterte Herbert, „alles ist möglich, wenn wir jedem Menschen einen Vertrauensbonus schenken und an ihn glauben und ihm dementsprechend begegnen. Dann verschwinden die Angst und das Misstrauen, die bislang alles blockieren.“
    „Aber wir können tolle Dinge doch nur wertschätzen, wenn wir vorher durch die Scheiße geschwommen sind“, warf Mike ein.
    „Das behaupten die Menschen“, erwiderte sein Vater flüsternd. „Aber Du siehst ja, wohin die Akzeptanz dieser Annahme uns geführt hat. Dazu musst Du bloß an die Negativ-Nachrichten denken, die Du mir vorhin vorgelesen hast.“
    „Trotzdem: Krankheiten und Katastrophen verschwinden nicht, nur weil wir an das Gute glauben“, sagte Mike.
    „Doch“, sagte sein Vater. „Unvermeidbare Dinge müssen wir umtaufen. Krankheit müssen wir als etwas Normales sehen. Wir können sie Verwandlung nennen. Wenn es uns gelingt, den Tod positiv zu bewerten – und er ist das Maximum – ist auch alles andere super. Sobald jeder gut denkt, verschwinden die Kriege und die Ausbeutung der Erde.“
    „Soll ich mir wirklich alles schön reden?“
    „Das ist schon wieder negatives Denken. Glaube mir einfach, dass die Welt gut wird, wenn Du gut denkst. Probier’s aus! Dazu brauchst Du weder Hoffnung oder Glauben, sondern die felsenfeste Überzeugung, dass es klappt. Du musst es nicht ausprobieren – Du musst es machen. Das habe ich im Traum gesehen!“
    Erschöpft schloss Herbert sein gesundes Auge.
    „Jetzt musst Du das Zimmer verlassen. Mama wird gleich zurück sein. Heute Nacht möchte ich mit ihr allein sein. Ich hab’ Dich lieb – und ich weiß, dass alles gut wird.“
     
    Mike wusste nicht, wie seine Eltern ihre letzten Stunden verbrachten. Erstmals seit vielen Nächten schlief er wieder in seiner eigenen Wohnung.
    Um 1 Uhr nachts läutete sein Telefon.
    „Papa ist gerade gestorben“, sagte seine Mutter.
    Der junge Mann raste zu Haus Holle, sprang die Stufen hinauf, rannte durch den Gang bis ans Ende des Flures – und öffnete die Tür zu Zimmer 12.
    Dann sah er seinen Vater.
    Mit angezogenen Beinen, geöffnetem Mund und geöffnetem Auge lag Herbert fast auf der Seite.
    Mike wusste sofort, dass er den Anblick nie mehr vergessen würde.
    Er nahm seine Mutter in die Arme und ließ zu, dass Dr. Albers sie mit sich in die Küche nahm. Dann war er allein. Allein in der Nacht mit einem Toten, der sein eigener Vater war. Das war schwer, und dennoch natürlich.
    Der Sohn zog einen Stuhl ans Bett. Er streichelte die Hand des Vaters. Er betete ein Vaterunser. Er blickte zur Decke des Zimmers.
    „Angeblich“, sagte er leise, „seht Ihr uns ja noch von oben, wenn Ihr hinüber gegangen seid. Also, lieber Papa, wenn Du mich von oben siehst, weißt Du, dass Du nicht allein bist. Vielleicht bist Du jetzt schon unterwegs. Falls das so ist, dann habe keine Angst. Vielleicht siehst Du die anderen noch nicht. Aber ich weiß, dass sie Dich abholen. Bald wirst Du unsere Familie sehen – sie werden alle zu Dir kommen. Ich bleibe hier bei Dir, bis Du es geschafft hast. Du bist der allerbeste Vater. Du hast alles richtig gemacht. Ich liebe Dich sehr. Ich werde Deinen letzten Rat umsetzen.“
    Mike blieb eine halbe Stunde bei Herbert.
    Während er am Bett seines toten Vaters saß, legte er eine CD ein, die er in Haus Holle gefunden hatte. Sein Vater hatte sie in den letzten Wochen häufig gehört.
    Mike ließ sich von der wahnsinnig hohen, alle Tonlagen auskostenden und jede Note ausfüllenden Stimme der Sängerin Anneliese Rothenberger sowie ihrem Text, den er vor seinem Aufenthalt in Haus Holle nicht gekannt hatte, nie mehr vergessen würde und zufälligerweise als absolut passend empfand, mitreißen: 
     
    In mir klingt ein Lied, ein kleines Lied,
in dem ein Traum von stiller Liebe blüht
für dich allein.
Eine heiße, ungestillte Sehnsucht
schrieb die Melodie.

In mir klingt ein Lied, ein kleines Lied,
in dem ein Wunsch von tausend Stunden glüht,
bei dir zu sein.
Sollst mit mir im Himmel leben,
träumend über Sterne schweben,
ewig scheint die Sonne für uns zwei,
sehn dich herbei
und mit dir mein Glück.
Hörst du die Musik,
zärtliche Musik . . . .
     
    Dann ging er hinunter ins Esszimmer, trank einen O-Saft und nahm seine Mutter in die Arme, bis sie aufhörte zu weinen. „Ich liebe Dich unendlich, Mama“, sagte Mike. „Wir haben es

Weitere Kostenlose Bücher