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Die Flockenleserin. Ein Hospiz, 12 Menschen, ein Mörder.

Die Flockenleserin. Ein Hospiz, 12 Menschen, ein Mörder.

Titel: Die Flockenleserin. Ein Hospiz, 12 Menschen, ein Mörder. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mike Powelz
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gemeinsam geschafft.“
     
    Um 2.30 Uhr betraten Mutter und Sohn Zimmer 12 gemeinsam. .
    Im Bett lag ein Mann mit einem Anzug.
    Ein Mann, der plötzlich gut aussah – mit vollen Wangen und einem Lächeln. Sein Haar war gescheitelt. In seinen Händen hielt er einen Stein mit der Aufschrift Glück . Seine Füße steckten nicht in Schuhen, sondern in grauen Wollsocken. Er trug die Krawatte seines Männergesangvereins.
    Und er war definitiv nicht mehr da.
    In der kurzen Zeit, die Anne und Mike Powelz in der Küche verbracht hatten, war Herbert gegangen. Das war deutlich zu spüren.
    So lautet die volle Wahrheit.

Die Flockenleserin
     
     
    Um 4 Uhr morgens erzählte Anne Powelz ihrem Sohn und ihrer Tochter, was geschehen war.
    „Wir haben geschlafen“, sagte die kleine weißhaarige Frau. „Wir waren fest und tief eingeschlafen. Genau um Mitternacht, vielleicht waren es aber auch zwei oder drei Minuten nach zwölf Uhr, erwachte Papa plötzlich, weil ihn ein Hustenkrampf schüttelte. Diesmal konnte er sich nicht mehr daraus befreien. Es ging immer weiter, es war einfach furchtbar. Ich rief sofort nach dem Pfleger – und der dünne Dietmar kam. Er holte die doppelte Dosis Tavor, und gab sie Papa. Doch sein Husten hörte nicht auf. Es war eine endlose Schleife.“
    Sie ließ sich in die Arme nehmen.
    „Also hielt ich Papas Hand und seinen Oberkörper, und dachte nur: Wann hört das auf? Mein Rücken schmerzte, ich konnte fast nicht mehr. Innerlich betete ich, und bat Gott, dass er ihn jetzt holen möge, damit er endlich erlöst sei. Dann fragte Dietmar, ob Papa nun doch die Spritze wolle, die ihn tief schlafen ließe – und er flüsterte: Ja. Also eilte der Pfleger wieder hinaus. Mir kam es endlos vor, bis er zurückkam. Insgesamt waren 20 Minuten vergangen, seit Papa hustend erwacht war. Doch als ihm Dietmar die Spritze gerade setzen wollte, wurde Papa plötzlich ruhiger. Da legt Dietmar die Spritze beiseite und bat mich, die Bettseite zu wechseln. Ich ließ Papas Hand los, setzte mich auf die andere Seite des Bettes und sah, dass Dietmar sich Papas Kopf näherte. Er sah ihm ganz tief in die Augen. Dann kam der Pfleger um das Bett herum, nahm mich fest in seine Arme – und sagte: Ihr Mann hat es geschafft, Frau Powelz! Versteht Ihr? Obwohl ich dabei war, als Papa starb, habe ich seinen Tod nicht mitbekommen. Er starb genau in dem Moment, als ich seine Hand kurz los gelassen hatte, um die Bettseite zu wechseln.“
     
    Um zwölf Uhr mittags am 17. Dezember, acht Tage vor Heiligabend, war die Kerze von Herbert halb abgebrannt.
    Die Stunde des Abschieds war angebrochen.
    Bevor die Menschen sein Zimmer betraten, um Teelichter und Fotos aus den vergangenen Wochen auf das Bett des Verstorbenen zu legen und einen Rosenkranz aus Santiago de Compostela um seine gefalteten Hände zu wickeln, waren Stefanie und Mike noch kurz allein mit ihrem Vater.
    Stefanie streichelte seine Füße, die so kalt waren wie Eis. Der Tote trug keine Schuhe, sondern nur Socken. Das hatte Anne entschieden, denn zu Lebzeiten war Herbert am liebsten ohne Schuhe durch die Gegend gelaufen.
    Mike drehte zwei kurze Videofilme, die er aufbewahren wollte. Dann umarmten sich die Geschwister, und die anderen Menschen traten ein.
    Schwester Serva sprach ein paar Worte, die ihren großen Respekt vor der Zuversicht des Verstorbenen auf ein Zusammensein mit Gott bezeugten.
    Herberts einziger Enkel, der ihm aus dem Gesicht geschnitten war, rief: „Opi sieht ja gar nicht aus wie ein Vampir!“ Der Kleine drückte den Großvater. In den vergangenen Wochen hatte der Sechsjährige das Sterben von Herbert ohne Scheu begleitet. Einmal hatte er Anne sogar geholfen. Als Serva den Kranken gefragt hatte, ob er die heiligen Sakramente der katholischen Kirche – die so genannte Letzte Ölung – im Hospiz ein weiteres Mal erhalten wollte, hatte Herbert etwas geflüstert. Niemand konnte ihn verstehen. Niemand bis auf Julian. Der kleine Enkel legte sein Ohr ganz nah an den Mund des Großvaters – und übersetzte seine Worte für alle Anwesenden: „Das war ein klares Ja!“ Trotz der traurigen Situation hatten alle lachen müssen. Jetzt war die Familie wieder vereint.
    Dr. Albers drückte den Knopf des CD-Players, die Familie nahm sich bei den Händen und hörte ein letztes Ave Maria . 
    Dann durfte sich jeder von Herbert verabschieden.
    Anne ergriff das Wort als Erste.
    „Ich hätte nie gedacht, dass Du so tapfer bist“, sagte die Witwe und stellte ein Teelicht auf

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