Die Flockenleserin. Ein Hospiz, 12 Menschen, ein Mörder.
völlig egal zu sein, was wir auftischen“, sagte Kostja lachend. „Hauptsache, es schmeckt nach Käse.“
„Und Montrésor?“, fragte die Hauswirtschafterin.
„Den müssen wir ebenfalls einplanen. Gestern habe ich ihn in der Küche erwischt, als er gerade die Frischhaltefolie von den abgedeckten Speisen, die ich für unsere junge Latina und Ruth Bröckel vorbereitet hatte, abnahm. Anscheinend wollte er davon kosten. Oder er war einfach nur verwirrt. Ich glaube, er hat großen Hunger.“
„Was ist mit Sonja?“
„Die hat sich erstaunlich berappelt.“
Der Koch warf einen Blick auf die Anmeldeliste. „Essen wird sie jedenfalls nichts. Aber Mutter Merkel müssen wir bekochen… Frau Prinz hingegen fällt wohl aus!“
Kostja dachte an Marisabel. Vorgestern noch hatte sie gegessen, gestern jede Speise verweigert – und heute sogar den Vitamindrink abgelehnt.
„Baut ganz schön ab, unsere liebe Hundezüchterin“, sagte Katharina. „Sie versteht nicht, warum sie nicht stirbt – wo sie doch endlich bereit für den Tod ist.“
Dann änderte sich der Gesichtsausdruck des Kochs. Er blickte auf den Namen, der neben Zimmer 6 stand.
„Was meinst Du dazu?“, fragte er traurig. „Ob er wohl etwas essen will?“
Katharina konnte nicht antworten. Tränen lähmten ihre Stimme.
Träume – es gibt sie in unterschiedlichsten Varianten.
Bis vor kurzem hatte Marisabel Prinz noch davon geträumt, Weihnachten zu erleben. Eigentlich war ihr Traum eine Hoffnung gewesen. Nun, wo sie wahr zu werden drohte, fühlte sie, dass ihr dieser Traum nicht weiter half. Denn sie fühlte sich nicht gut. Am liebsten hätte sie gar nicht mehr auf den Kalender geschaut. Trotzdem rückten die Festtage näher. Schon in vier Tagen würde es im ganzen Haus nach Gans und Rotkohl riechen. Bald drohte der süße Geruch von Zimtpudding durch alle Räume zu wabern – und sie wieder erbrechen lassen. „Mein letztes Weihnachten“, dachte sie traurig. Ihr Traum war zum Albtraum geworden.
Die Träume des alten Vagabunden Rudi Weiß waren von ganz anderer Natur. Er träumte von einem leckeren Essen – und einem Wiedersehen mit Mick und seiner großen Liebe Tanja. Vielleicht würde sie mit ihrem knallroten Sportwagen bis vor die Rampe von Haus Holle vorfahren? Montrésor würde Bauklötze staunen. Vor Rudis geistigem Auge entstand das Bild eines schillernden Weihnachtsfestes. „Endlich habe ich eine Familie“, dachte der alte Vagabund. „Jetzt bin ich nicht mehr allein.“ Er knutschte seinen Sittich, schlackerte mit den Ohren und knabberte an einem Stück Käse.
Auch Montrésor träumte von Heiligabend. Nur noch ein Weihnachtsfest wünschte er sich, am liebsten allein mit seiner Frau. Inzwischen wuchsen mehrere Beulen auf seinem Kopf, und jede von ihnen war eine Metastase. Dass er immer seltener klar sehen konnte, wollte er niemandem verraten. Vor allem nicht seiner Frau. Wer weiß, wen sie dann anschauen würde…
Die wildesten Träume jedoch hatte Minnie.
Seit sie neben Jumbo, der bis zum Kinn zugedeckt war, im Bett lag und draußen pausenlos Schneeflocken fielen, passierten die verrücktesten Dinge in ihrem Kopf. Pausenlos regnete es Schneeflocken wie Puzzleteile, die sie greifen und ordnen wollte. Leider jedoch wollte keine Flocke zur nächsten passen. Die Zacken der Eiskristalle waren jedes Mal unpassend. Das hielt die alte Schneekönigin nicht davon ab, es trotzdem zu versuchen. Die Spielregeln des Schneepuzzles jedoch waren undurchschaubar. Sie folgten fremden Gesetzen.
Vor allem die größte Schneeflocke machte es Minnie schwer. Wenn diese Flocke durch die Luft wirbelte, änderte sie nicht nur ihre Form, sondern auch ihre Farbe. Mal war sie durchsichtig, dann plötzlich hellblau. Einmal schimmerte sie sogar grün. Die Riesenflocke fuhr ihre Zacken aus und wieder ein, wirbelte beständig im Kreis, und bewegte sich zuletzt auf den Bahnen einer Ellipse. Minnie konnte sie nicht ergreifen. In der Mitte der wirbelnden Flocke blitzte Knut Knopinskis Kopf auf. Sie sah, wie er den Mund weit aufriss und sie bösartig anstarrte. Ich vergesse niemals ein Gesicht , sagte die uralte Schneeflocke drohend. Ein Gesicht vergesse ich niemals . Die Flocke wollte Minnie entfliehen. Irgendwie gelang es der alten Dame trotzdem, einen ihrer Zacken zu ergreifen. Er war in sich gebrochen. Die Bruchstelle hatte die Form eines komplizierten Schlüssels. Wie sollte sie unter Millionen von Flocken den passenden Zacken finden? Verzweifelt
Weitere Kostenlose Bücher