Die Flockenleserin. Ein Hospiz, 12 Menschen, ein Mörder.
das Bett des Verstorbenen. „Ich liebe Dich.“
Anschließend folgte Stefanie: „Ich bin so stolz auf Dich. Du warst immer ein guter Vater. Ich liebe Dich.“ Ihr kleiner Sohn tat es ihr gleich.
Zuletzt ergriff Mike das Wort. Er stellte das Teelicht aufs Bettlaken und sagte: „Alles ist gut, Enok. Ich liebe Dich.“
Gemeinsam verließ Familie Powelz Zimmer 12, und schwarz gekleidete Männer vom Beerdigungsinstitut betraten den Raum, in dem so viel gebangt, gelebt und geredet worden war. Kurz darauf schoben sie einen Sarg auf Rollengestellen an den anderen Zimmern vorbei Richtung Ausgang.
Mike begab sich ein letztes Mal auf Abschiedstour. Er begann bei Marisabel, die immer noch auf den Tod wartete. Schniefend kondolierte ihm die Hundezüchterin.
„Konnte Ihr Vater gut gehen?“
„Er war voller Hoffnung auf ein Wiedersehen mit unseren Vorfahren“, verriet Mike. „Doch er hatte auch Angst.“
„Ich dachte, er sei religiös gewesen?“
Mike blickte die Hundezüchterin ernst an. „Kennen Sie die Geschichte jenes Buddhas, der seinen Mönchen ein Leben lang erzählt hatte, dass sie keine Angst vor dem Tod haben müssen?
„Nein“, erwiderte Marisabel.
„Am Ende seines Lebens umringten ihn die Mönche am Sterbebett. Plötzlich merkte einer, dass der Buddha noch etwas sagen wollte. Alle verstummten, denn sie dachten, nun käme die ultimative Weisheit.“
„Was verriet der kluge Mann?“, fragte Marisabel neugierig.
„Er sagte kläglich: Ich will nicht sterben.“
Nachdem Mike Frau Prinz alles Gute gewünscht hatte, wollte er sich von Adolf Montrésor verabschieden. Doch ausgerechnet heute hatte der Ex-Manager einen schlechten Tag. „Wahrscheinlich drückt sein Tumor auf eine neue Stelle in seinem Gehirn“, sagte Bruno und nahm Mike in die Arme. „Ich wünsche Anne und Dir alles Gute – und lasst Euch mal wieder sehen. Marisabel und Minnie freuen sich bestimmt über Deinen Besuch. Willst Du noch kurz bei der alten Dame reinschauen?“
Gemeinsam betraten sie Zimmer 6.
Minnie schlief tief und fest. Mehr gelb als weiß und mehr röchelnd als atmend lag die alte Dame im Bett, während ihre Finger unermüdlich in der Luft arbeiteten.
Ruth erhob sich aus dem Sessel. „So geht das nun schon seit einigen Stunden“, sagte sie nüchtern. „Doch keine Sorge – ich halte Wache! Machen Sie sich keine Sorgen! Heute kommen Minnies Töchter. Gemeinsam schaffen wir den Endspurt…“
„Ich muss aber noch einmal mit ihr reden! Es gibt da noch eine Sache…“, rief Mike.
„Dann rufen Sie doch einfach an!“
Ruth erwies sich als Pragmatikerin. Sie notierte Minnies Durchwahl auf einem Zettel und reichte sie Mike. „Ich werde immer hier sein – rufen Sie an, wann immer Sie mögen. Sobald unsere liebe, alte Dame erwacht, sage ich ihr umgehend, dass Sie mit ihr sprechen möchten.“
Der Reporter bedankte sich. „Meine Mutter und ich werden noch einmal kommen – am Vormittag des Heiligen Abend. Bis dahin wird Minnie ja wohl erwacht sein, sofern sie nicht… gestorben ist.“
„Das glaube ich auch“, sagte Ruth beherzt. „Ich wünsche Ihnen alles Gute. Wir sehen uns zu Weihnachten wieder.“
Die hässliche, übernatürlich große Dame sank zurück in ihren Sessel, und vertiefte sich erneut in ihr Buch.
Pläne. Nichts ist so sehr ein Fremdwort wie dieses – zumindest in einem Hospiz. Gäste, die gestern noch aßen und lachten, können morgen schon verstummt sein. Menschen, die heute noch gingen und rollten, liegen kurz darauf schon im Bett. Und Köche, die ein dreigängiges Weihnachtsmenü planen, müssen immer damit rechnen, dass sich die Anzahl ihrer Tischgäste bis zum Tag e des großen Festes stark dezimiert hat – sofern es überhaupt noch Esser gibt. Kostja war daran gewöhnt.
Am 20. Dezember ging er die Menüpläne erstmals mit der Hauswirtschafterin durch, um eine grobe Richtung festzulegen. „Ich werde wie immer, wenn ich eine Wunschkost für einen Gast zubereite, größere Portionen kochen – für den Fall, dass am 1. Weihnachtstag noch ein Nachschlag gewünscht wird“, beschloss er.
Bella Schiffer, Jesse Zimmermann, der alte Priester und der von seiner eifersüchtigen Gattin abgeschirmte Golo Grünlich aus Zimmer 2 würden nichts mehr essen. Sie lagen seit Tagen im Sterben. Genau wie Minnie, die alte Dame.
Doch es gab auch mobile Gäste – und drei von ihnen aßen für zwei.
Einer von ihnen hieß Rudi Weiß. Der alte Vagabund verschlang alles.
„Ihm scheint es
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