Die Flockenleserin. Ein Hospiz, 12 Menschen, ein Mörder.
blickte sie sich um. Das Schneetreiben nahm immer mehr zu. Alle Flocken waren transparent, und weiß wie sie selbst. Plötzlich hielt die Flockenleserin den Atem an. Inmitten des gefrorenen Rieselregens hatte sie einen hervorstechenden Schneekristall erblickt. Er war rot gefärbt. Es war ein gefrorener Tropfen Blut. Die rote Flocke flog nicht nur von selbst auf die Schneekönigin zu und tanzte verlockend vor ihren Augen, nein, sie ließ sich auch ganz leicht fangen. Die rote Flocke war sogar zu hören. Ihr Klang war so zerbrechlich wie Glas. Ich habe zuhause ein Foto , sang die kristallklare Flocke. Einer ihrer Zacken kam Minnie bekannt vor. Es war exakt derjenige, der in die Bruchstelle der Knopinski-Flocke passte. Endlich hatte sie zwei Schneeflocken gefunden, die zueinander gehörten. Sie setzte die Riesenflocke und die rote Blutflocke zusammen. Sofort verschmolzen sie zu etwas Großem und ließen sich nicht mehr voneinander lösen. Im Gegenteil: Minnies neue Schneeflocke verlangsamte sogar das Flugtempo und sie wurde rotweiß.
Dann erschien plötzlich ein Windwirbel – oder war es ein Wirbelwind? Egal, die Ursache war eine schreiende Flocke, die inmitten eines Schneegestöbers aufblitzte. Sie tauchte im Zentrum des Wirbels auf, war extrem energiegeladen und schrie wie am Spieß. Sie erinnerte die Schneekönigin an einen in einen See geworfenen Stein, der konzentrische Kreise bildete. Steinehüpfen hatte sie das als Kind genannt. Alle anderen Flocken flohen vor dem schreienden Kristall, der in Wirklichkeit gurgelte wie ein Ertrinkender und Auuuuuuu rief. Er trug Professor Pellenhorns erstickendes Antlitz. Das war ein unvergesslicher Anblick. Die Berthold-Au-Flocke schmerzte in Minnies Ohren. Sie ließ sich ganz leicht ergreifen, denn sie war langsam. Als Minnie die Berthold-Au-Flocke in den Händen hielt, spürte sie ihren Schmerz im Innern, und sie erkannte, dass die Schreiflocke von Salzkristallen umsäumt war. Es war eine gefrorene Träne. „Ist gut“, flüsterte die alte Dame, „jetzt habe ich Dich gefunden, jetzt wirst Du für immer bei mir sein.“ Die schreiende Flocke passte perfekt zu der rotweißen Flocke, die nun zu sehen und zu hören war. Minnie ließ sie beruhigt los. Die rotweiße Bertholdsalzflocke drosselte ihr Tempo weiter. Langsamkeit hatte Minnie immer zu schätzen gewusst. Tu alles mit Bedacht lautete einer der ersten Ratschläge ihrer Mutter, und die alte Dame hatte sich ein Leben lang daran gehalten. Jetzt wurde das belohnt. Plötzlich erinnerte sie sich an weitere Ratschläge sowie an ihre guten und schlechten Handlungen, an Glücksmomente und Abschiede. Jede der Schneeflocken enthielt eine andere Erinnerung. Manche wurden schwarz und trüb, als Minnie in ihr Innerstes blickte. Sie zeigten der alten Dame, wo sie im Leben versagt hatte. Die Gesichter, die sie enthielten, waren traurig oder müde oder blass oder verschwommen. Sobald Minnie sie berührte, zerfielen sie. Doch es gab auch goldene Flocken. Sie glänzten und funkelten und sie bildeten Momente des Jubels ab. Größtenteils war das Gestöber schneeweiß und Minnie erkannte, was im Leben wichtig war: Sich selbst treu zu bleiben und seine eigene Farbe zu finden. Auch Abstraktes tauchte auf, doch es entpuppte sich sofort als eine Schneeblase. Manche der Flocken enthielten Schmuck, Fernsehsendungen oder Papierkram. Diese Flocken zerplatzten schnell. Die Flockengesichter ihrer Haustiere jedoch umschwebten die alte Dame lange. Weitere Eiskristalle zeigten ihr Wanderungen durch tiefe Wälder, Gespräche mit anderen Menschen, jede Reise mit ihrem Gatten, Umarmungen und Liebesnächte. Das ganze Puzzle ergab einen Sinn. Doch weitere Schneeflocken, die zu Bertholds rotweißer Schreiflocke passten, fand sie nicht – so sehr sie auch suchte.
Plötzlich fiel Minnie ein weiterer Ratschlag ihrer Mutter ein. Er lautete: Schau nicht auf das, was Dir als erstes auffällt. Übersieh niemals, was an den Rändern des Lebens passiert! Es könnte das wahre Zentrum sein!
Kaum hatte sie sich daran erinnert, wurde das komplette Schneegestöber beiseite geschoben, als wäre es zuvor von einer verspiegelten Tür reflektiert worden, die endlich geöffnet wurde. Als sie in das Sein dahinter blickte, sah sie die Wahrheit – und die war tiefer als die Spiegelung. Hinter der Tür war alles schneeweiß. Sie war in Haus Holle, in einem Märchenwald. Minnie sah die Unordnung des Lebens in seiner ganzen Schlichtheit. Sie stand mitten in einem Schneesturm. Ihr
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