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Die Flockenleserin. Ein Hospiz, 12 Menschen, ein Mörder.

Die Flockenleserin. Ein Hospiz, 12 Menschen, ein Mörder.

Titel: Die Flockenleserin. Ein Hospiz, 12 Menschen, ein Mörder. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mike Powelz
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Ich erkannte, dass es sinnlos war, hier etwas ordnen zu wollen, und dass alle Versuche des hinter ihr liegenden Lebens auf eine einfache Formel zurückzuführen waren. Es ging darum, dem Schneesturm standzuhalten. Sie sah ihr Elternhaus, sie sah Regeln und Gebote, sie sah die alte Tafel in ihrer Schule, Prüfungen und Etikette, Zivilisiertheit und Kompromisse, gutes Benehmen und Verbote, sie sah Blicke, die sie hatten einnorden wollen und Blicke, die sie hatte einordnen wollen und mit einem Schlag wurde ihr die Künstlichkeit dieser Orientierungsversuche bewusst und ihre Unnötigkeit. Jede Ordnung wurde niedergerissen vom weißesten Weiß der Welt hinter der Schneespiegeltür. Jede Stufe der Zivilisierung, die sie in ihrem Leben beschritten und akzeptiert hatte, hatte Minnie zu einem Kompromiss geführt, der eine Konsequenz nach sich zog. Das Menschenwerk hatte sie von der Schulzeit zur einer Ausbildung gebracht sowie zu Benimmkursen, Heirat und Kindern. Die Wahrheit spiegelte ihre Fehler: Minnie hatte die Korruption ihres Arbeitgebers gedeckt, von dem sie ursprünglich gedacht hatte, dass er ein guter Mensch gewesen sei. Selbst als andere Menschen unter ihm litten – und er den Profit über die Existenz von Familien mit kleinen Kindern gestellt hatte, hatte sie, Minnie, weiterhin für ihn gearbeitet. Schließlich hatte sie einen firmeninternen Skandal aufgedeckt und ihren Chef darüber informiert. Doch er war ein guter Schönredner. Die Schneekönigin hatte ihm weiterhin gedient. Dem Schneesturm war das egal. Er riss Minnies Ausreden nieder. Er wehte jede Fassade um. Nein, ein guter Mensch war sie nicht gewesen. Im Kleinen ja, im Ganzen nicht. Entschuldigungen waren fehl am Platze. Es ging um das Ganze. Das sah Minnie glasklar und scharf.
    Auf dem Sterbebett umkreisten sie die negativen Energien ihres Lebens. Manches Flockengesicht weinte bittere Tränen. Gleichzeitig gab es im weißen Dickicht keinen Menschen, der ihr Ausreden anbot wie Du badest im Selbstmitleid oder Wovon willst Du denn leben, wenn Du damit brichst? Ihr Gewissen war brutal. Es hielt ihr ihre Fehler vor. Entfliehen konnte sie dem nicht. Sie hatte Hitler zugejubelt. Sie war im Bund deutscher Mädel gewesen. Sie hatte die Augen vor dem Holocaust verschlossen. In der Nachkriegszeit hatte sie Briefe aus fremden Briefkästen gestohlen – in der Hoffnung, Geld zu finden, um ihre Töchter ernähren zu können. Damals hatte sie einen Warntraum ignoriert, der sie darauf hinwies, dass sie ihre Seele zu verlieren drohte.
    In diesem Albtraum war sie von einem Schwarzen Mann gebeten worden, ein helles Kästchen für ihn zu halten. Als sie es in die Hände genommen hatte, verfärbte es sich zur Hälfte dunkel. Deine halbe Seele habe ich schon , warnte sie der schwarze Unheimlichmann. Damals war sie 35 Jahre alt gewesen und schweißgebadet aufgewacht. Doch geändert hatte sie sich nicht. Im Gegenteil. Später hatte sie ihren Ehemann betrogen. Daraufhin war ihr der schaurige Schwarzkerl ein zweites Mal in einem Albtraum begegnet: Minnie bewohnte das oberste Zimmer in einem düsteren Hotel – einen Raum, der sich nur über eine Holzleiter erreichen ließ. Kaum hatte sie die Mitte erklommen, zupfte jemand an ihrem Rock. Als sie sich umsah, bleckte der Dunkelhäutige seine Zähne. Ich bin immer bei Dir , hatte er gedroht. Doch die Flockenleserin war ihm ein zweites Mal entkommen. Von beiden Träumen hatte sie einer engen Freundin erzählt, der nichts Besseres eingefallen war, als Minnie über-moralisch zu nennen. Ihre Albtraumsymbole seien eindeutig auf ihre christliche Erziehung zurückzuführen – und darauf, dass Minnie in Schwarzweiß-Mustern denke. Es hatte lange gedauert, bis Minnie ihre eigene Interpretation gefunden hatte: Man kann kein richtiges Leben im falschen führen.
    Erst daraufhin hatte sie sich gebessert, und war ein guter Mensch geworden.
    Und selbst jetzt – im Flockensturm des Windwirbels – ließ sich noch manches glatt bügeln. Sieh in den Spiegel , flüsterte die rotweiße Berthold-Salz-Schrei-Flocke. Sieh doch endlich in den Spiegel! Erkenne, was ich Dir sagen will!   Im Spiegel findest Du des Rätsels Lösung – auf die Frage, was wirklich in Haus Holle geschieht mit uns Menschen und wer uns alle ermordet hat.
    Dann stob der Schnee auseinander, und plötzlich wurde es ganz warm.
    Eine kleine Katzenkralle drückte sich in Minnies Brust. Die alte Dame öffnete die Augen.
    Sie sah in den Spiegel und erkannte die Wahrheit.
    Plötzlich

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