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Die Flockenleserin. Ein Hospiz, 12 Menschen, ein Mörder.

Die Flockenleserin. Ein Hospiz, 12 Menschen, ein Mörder.

Titel: Die Flockenleserin. Ein Hospiz, 12 Menschen, ein Mörder. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mike Powelz
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verstand sie, was die Schneeflocke gemeint hatte. Es war alles so einfach… wenn man Haus Holle im Spiegel betrachtete wie es Alice im Wunderland getan haben musste. Nun lösten sich auch die Schemen auf, und die alte Dame sah die hässliche Ruth.
    „Wie lange habe ich geschlafen?“, fragte Minnie erstaunt.
    Sofort war Ruth an ihrer Seite. „Dass Sie noch einmal aufwachen…“ Rasch drückte sie auf den Alarmknopf.
    Im nächsten Moment füllte sich der Raum mit Menschen. Minnie war zurück im Leben.

Stille Nacht
     
     
    „Mama! Es ist Heiligabend! Wie schön, dass Du endlich erwacht bist!“
    Die alte Dame sah ihre Töchter. Zuerst nahm sie Clara in die Arme, dann hielt Minnie Ute fest. Beide weinten dicke Tränen.
    „Du hast vier Tage geschlafen… Und immer Sachen gemurmelt… Wir dachten schon… Wir glaubten, Du stirbst…“
    Ihre Mädchen lachten und weinten abwechselnd.
    Auch Ruth putzte sich die Nase vor Rührung. Statt sich dezent zu entfernen, fiel die hässliche Zwei-Meter-Frau plumpsend in ihren Stuhl zurück und grinste. „Ich dachte auch, es ginge zu Ende. Sie waren so weit und so lange weg. Ich habe pausenlos Wache gehalten.“
    Per Knopfdruck stellte sie den Kopfteil von Minnies Bett hoch, damit die alte Dame gerade sitzen konnte und Halt im Rücken fand. 
    Verwirrt blickte sich die Flockenleserin im Zimmer um. „Was machen die Teelichter hier? Und warum ist es so still?“
    Clara ergriff ihre Hand. „Wir haben Weihnachtsstimmung gezaubert. Es ist noch ganz früh am Heiligen Abend – erst neun Uhr morgens. Was für ein Geschenk, dass Du jetzt erwacht bist… Wir haben so viele Fragen!“
    „Psst, mein Mädchen“, beschwichtigte Minnie, „Mutter muss erst wach werden. Schenkt mir noch ein paar Minuten…“
    Clara küsste die alte Dame auf die Wange. „Alle Zeit, die Du brauchst, Mama! Wir geben Dir alle Zeit!“
    „Was habe ich gesagt, während ich schlief?“
    „Du hast ständig von Spiegeln geredet. Von Flocken und von Illusionen. Wir haben uns so gesorgt. Hast Du das Schneegestöber tatsächlich sehen können, obwohl Du geschlafen hast?“
    Die alte Dame blickte zum Fenster. Millionen Flocken fielen vom Himmel. Der Wintertag war wunderschön. „Ich glaube, ich habe alles gesehen“, sagte sie flüsternd.
    Die alte Dame spitzte die Ohren. Aus der Küche erklang Musik. Kostja zauberte bereits. Das ganze Haus erschien wie verwandelt. Es roch nach Gans, Rotkohl und Rosinen, nach Zimt und Mandeln, nach Honig und Pudding.
    Doch auf ein Geräusch wartete die alte Dame vergebens. Das sanfte Beten des Priesters war nicht mehr zu hören. „Es ist so still hier“, sagte sie lauschend. „Was ist mit dem Geistlichen?“
    „Du meinst den verwirrten, alten Herrn?“ Ute drückte die Hand ihrer Mutter. „Den habe ich ein paar Mal besucht. Sonst hatte er ja niemanden, keine Besucher außer den Pflegern. Er war ein reizender Mann… Kaum nahm man ihn in die Arme, hat er sich eingekuschelt wie ein Baby. Seine Augen waren leuchtend blau. Er war so einsam, genau wie ich. Wenn ich ihn festhielt, dachte ich nur an Dich. Denn Dich, liebe Mama, durften wir ja nie anheben – weil Dir ein Blutsturz droht.“
    „Er war ein reizender Mann?“, fragte Minnie.
    „Ganz recht“, sagte Ute. „Gestern Nacht ist er eingeschlafen. Ganz friedlich und ruhig.“
    „Das hast Du gut gemacht, mein Mädchen“, entgegnete Minnie und küsste Ute. „Dein Herz sieht immer als Erstes die Schwachen.“
    Ihr Blick wandte sich zur zweiten Tochter. „Und Du, mein Kind, wo sind meine Enkel?“
    „Ich habe sie nicht mitgebracht. Wir wollten allein mit Dir sein. Wir haben ja… ach, reden wir später. Ich soll Dich von Lennox grüßen. Der Kleine ist tieftraurig. Seine Lieblingsoma… Er sorgt sich so…“
    Minnie lächelte. Gleichzeitig bahnte sich eine Träne den Weg aus ihrem Auge, und fand ihr Ziel an ihrem Kinn. „Mein lieber Lennox“, flüsterte sie bewegt. „Ich weiß, dass ich ihm sehr fehlen werde. Er war immer ein Oma-Kind.“ Und er sieht meinem Wilhelm zum Verwechseln ähnlich , dachte die alte Dame heimlich.
    Bruno betrat ihr Zimmer. „Sie sind also wach“, sagte er forsch. „Unser Christkind weilt wieder unter uns. Was für ein Geschenk! Dann will ich Kostja mal informieren. Mögen Sie Gans?“
    „Zuallererst ein Glas kaltes Mineralwasser!“ Minnies Lippen brannten wie Feuer. „Anschließend möchte ich mich schön machen, um nach unten zu gehen – zu den anderen. Ich meine, wenn nichts

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