Die Flockenleserin. Ein Hospiz, 12 Menschen, ein Mörder.
Sie überhaupt mit ihm zusammen, wenn er stockschwul war?“
„Er war überhaupt kein Arsch“, entgegnete Olimpia leise und überhörte Rudis letzte Bemerkung. „Er war ein wundervoller Mensch, der sich selbst im Wege stand. Nach und nach gelang es mir, ihn ein wenig aufzulockern. Wir verlebten die schönsten Urlaube, die man sich vorstellen kann – in Istanbul, auf Mallorca und später auf Clubschiffen. Doch erst nach vielen Jahren wurde ich seiner besten Freundin vorgestellt. Nach 17 Jahren half er mir, eine wunderbare Wohnung auszubauen. Doch zu diesem Zeitpunkt sahen wir uns längst nur noch an den Wochenenden, weil wir Arbeitsplätze in zwei verschiedenen Städten hatten.“
„Warum sind Sie nie zusammengezogen?“, frage Minnie erstaunt.
„Weil er immer nach einer Wohnung suchte, die groß genug war, um sich auch mal aus dem Weg gehen zu können … Das erklärt alles, oder? Außerdem schmetterte er jeden meiner zahlreichen Heiratsanträge ab. Lediglich ein Fest der Freundschaft wollte er zu unserem 20. Jahrestag mit mir feiern. Doch den haben wir nicht mehr erlebt.“
„Warum nicht?“, fragte Minnie.
„Weil ich ihn nicht mehr liebte“, sagte Olimpia. „Ich war schon Jahre vorher zickig, weil ich mich so hilflos fühlte. Wenn wir allein waren, verhielt er sich wunderbar. Er liebte Tiere, war extrem fleißig, verwöhnte mich manchmal und war auf seine Weise einzigartig. Aber er flirtete vor meinen Augen mit anderen Männern. Einmal habe ich aus Eifersucht ein Glas gegen die Wand geworfen und gerufen: Du bist tot . Mein Exfreund hat mich nicht geliebt. In 19 Jahren durfte ich ihm kein einziges Mal in die Haare fassen. Bei ihm musste alles picobello sein.“
„Ich finde, dass Sie ganz schön dumm waren“, warf Rudi ein. „Meine Tanja darf ich überall anfassen, wenn wir in ihrem knallroten Sportflitzer sitzen. Auch ihre dicken Brüste.“
Olimpia wies den Einwurf zurück. „Ich finde nicht, dass ich dumm war. Ich liebte ihn von ganzem Herzen. Kurz darauf geschah etwas, womit ich selbst niemals gerechnet hätte. Irgendwann kam der Bruder meines Freundes mit seiner Frau und seinen Söhnen aus den USA zu Besuch. Gemeinsam mit den Eltern meines Freundes mietete die ganze Familie einen Bauernhof im Allgäu– und ich musste drei Wochen lang auf ihn verzichten, weil ich natürlich nicht mitkommen durfte. In diesen drei Wochen bin ich meiner wahren, großen Liebe begegnet. Ich wusste es auf den ersten Blick. Seitdem ist alles wunderbar – auch wenn mein Liebesleben weiterhin schwierig war.“
„Inwiefern?“, wollte Minnie wissen.
„Meine große Liebe ist gnadenlos direkt. Alles, was ich mir bei meinem ersten Partner abtrainieren musste – vor allem bedingungslose Nähe – musste ich mir nun wieder im Eiltempo antrainieren. Sobald ich jene Distanz aufrechterhalten will, die mein erster Partner so sehr brauchte, wird mein zweiter Partner sehr böse. Es dauerte nur zwei Monate, als ich bei seinen Eltern am Tisch saß und seiner ganzen Großfamilie vorgestellt wurde. Diese Umstellung war ein Schock für mich. Gleichzeitig fühlte ich mich wie ein Schwamm, der alles aufsog, weil er so vertrocknet war. Endlich floss das Leben wieder durch meine Adern.“
„Klingt, als wären Sie trotzdem wieder der schwächere Part gewesen, der sich anpassen musste“, sagte Minnie.
„Exakt“, gestand Olimpia, „denn mein zweiter Mann gab den Takt in allem an. Irgendwann jedoch erkannte ich, dass sich mein arbeitsloser neuer Mann nur heillos überfordert fühlte von meinem geregelten Alltag und meinem Nachtclub. Er war eifersüchtig auf alles und jeden.“
„ Haben Sie das Problem in den Griff bekommen?“, fragte Minnie.
„Ja“, erwiderte Olimpia. „Doch es hat lange gedauert. Irgendwann erkannte er, dass ich ihn wirklich liebe und mein Job im Nachtclub nicht bedeutete, dass ich nachts mit Männern flirtete oder mit ihnen schlief. Ich habe ihn niemals betrogen und würde es auch niemals tun. Aber er hatte eine derartig schwierige Kindheit, dass er lange brauchte, um das zu verstehen. Jetzt sind wir glücklich wie zwei Irre. Er sagt mir jeden Tag, dass er mich von ganzem Herzen liebt. Er nennte mich Papito .“
„Sie sind irre!“, sagte Rudi und starrte Olimpias Perücke an. „So irre wie ihre Geschichten.“ Der alte Vagabund kicherte, schlug sich mit der Hand vor der Mund und entblößte mehrere Zahnlücken.
„Tja, das Leben ist manchmal verrückt“, seufzte Olimpia. „Da will ich Ihnen nicht
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