Die Flockenleserin. Ein Hospiz, 12 Menschen, ein Mörder.
einem Kippfenster des Grünen Saals drangen. Die alte Dame saß gerade im Wintergarten.
„… und damit ist die große Teamsitzung eröffnet. Gibt es irgendetwas Außergewöhnliches zu berichten?“
Die alte Dame erkannte, dass die Stimme Falk Berger, dem Hospizleiter, gehörte.
Bruno antwortete als Erster. „Ich habe heute wirklich keine Zeit für eine Konferenz. Professor Pellenhorn muss dringend abführen.“
Jetzt erklang Andreas’ Stimme. „Wir werden uns beeilen, Bruno. Aber Du weißt ganz genau, dass wir einmal pro Woche zusammentragen müssen, wo die Gäste stehen, bei wem Fähigkeiten verloren gegangen sind und was wir noch kompensieren können.“
„Müssen… können…“, grummelte Bruno. „Als Haus Holle gegründet wurde, haben wir die Schmerzen gelindert. Durch den ganzen Psycho-Kram werden feine Tanten wie Bella und Marisabel noch verwöhnter.“
Der Hospizleiter schlug auf den Tisch. „Wir beginnen mit Frau Prinz. Irgendwelche Veränderungen?“
„Alles wie immer“, antwortete ein Pfleger, den Minnie heimlich dicker Dietmar getauft hatte. Die alte Dame hatte ihn erst einmal gesehen, und sich gewundert, dass es zwei Pfleger mit demselben Vornamen gab. Doch anhand ihrer Figuren konnte sie die Männer leicht unterscheiden. Der eine war dünn, der andere dick.
Nun fuhr der rundliche Pfleger fort. „In der Nacht will unsere Hundezüchterin nach wie vor nicht gestört werden. Am Morgen ist sie die Erste bei Tisch. Mein Fazit: Guter Appetit, guter Allgemeinzustand, extrem mobil.“
„Frau Prinz hat sich wahnsinnig über ein paar unbezahlte Rechnungen aufgeregt“, verriet Andreas seinen Kollegen. „Hinter diesem Tohuwabohu verstecken sich ein paar große Ängste. Frau Prinz will die Aufmerksamkeit der anderen Gäste partout auf sich lenken, und ihnen das Leben erklären. Sie ist eine Powerfrau, die sich immer durch Leistung definiert hat. Jedes Mal, wenn sie eine Lebenskrise meistern musste, hat sie sich selbst aus der Scheiße gezogen. Doch in dieser Situation wird ihr das Leistungsdenken nicht weiterhelfen können. Deshalb befürchte ich, dass sie sich nicht mehr selbst wertschätzen kann, wenn ihre Power wegbricht. Ich muss unserer Hundezüchterin unbedingt klarmachen, dass sie bedingungslos geliebt wird – egal, was kommt. Zuerst kümmere ich mich um ihre Probleme mit den Mahnungen.“
„Medikamentös rate ich zu einer leichten Erhöhung des Morphiums“, sagte Dr. Coppelius. „Bald werden Frau Prinz’ Knochen stärker schmerzen. Ich habe gehört, dass sie immer öfter über Schmerzen klagt, wenn sie vom Tisch aufsteht.“
„Gibt es noch etwas über Frau Prinz zu sagen?“, fragte der Heimleiter. „Nein? Dann kommen wir jetzt zu Annette Müller.“
„Annette ist nach wie vor sehr mobil und sie hat einen gesunden Appetit“, verriet Hendrik. Dieser Pfleger hatte Minnie sofort an einen Hans-guck-in-die-Luft erinnert. Er wirkte wie jemand, der mit seinen Gedanken ständig woanders war.
„Bei Annette ist psychisch alles in Ordnung“, merkte Andreas an.
„Allerdings droht ihr ein Darmverschluss.“ Diese Diagnose stellte Dr. Aracelis, die zweite Ärztin in Haus Holle. „Darauf müssen Sie Annette psychisch vorbereiten, Andreas.“
Minnie wurde angst und bange. Sie hatte nicht lauschen wollen, doch nun war es einmal geschehen. Was um alles in der Welt würde bloß über sie gesagt werden? Als nächstes wurde der Name von Adolf Montrésor genannt, und die alte Dame bekam eine Schonfrist.
Zu Minnies Erstaunen diagnostizierte Andreas eine psychotische Neigung bei Montrésor: „Er bildet sich immer öfter Dinge ein. Manchmal wacht Adolf nachts auf und behauptet, dass er nichts zu essen bekommen habe, obwohl er sich beim Abendessen noch den Bauch vollgeschlagen hat. Außerdem gibt es ein großes Problem in seinem persönlichen Umfeld. Seine Ehefrau hat Alzheimer im fortgeschrittenen Stadium. Vorgestern hat sie ihren Mann zum ersten Mal nicht mehr erkannt.“
Dr. Aracelis ergriff das Wort. „Vielleicht sind seine Psychosen auf eine Metastase im oder am Hinterkopf zurückzuführen. Neulich habe ich eine deutlich hervortretende Beule gesehen, die mir vor einer Woche noch nicht aufgefallen ist.“
„Sollten wir ihm mehr Morphium geben?“, fragte der dicke Dietmar.
„Momentan ist das noch nicht nötig“, erwiderte Dr. Coppelius. „Aber künftig sollten wir alle mehrmals am Tag bei Herrn Montrésor ins Zimmer schauen.“
„Gut.“ Der Hospizleiter schien sich eine
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