Die Flockenleserin. Ein Hospiz, 12 Menschen, ein Mörder.
Notiz zu machen. „Irgendwelche Veränderungen bei Klärchen Krause?“
„Alles wie immer“, antwortete Bruno. „Omi hat Appetit wie ein Scheunendrescher.“
„Das ist ihre letzte Bastion im Kampf gegen die Krankheit“, erklärte Andreas. „Außerdem ist Frau Krause davon überzeugt, dass die Ärzte sie irrtümlich aufgegeben haben, und dass sie ihre Krankheit besiegen kann. Dieser Irrglaube ist auf die Überweisung der Klinik zurück zu führen, die Frau Krause gelesen hat.“
„Was stand auf dieser Überweisung?“, fragte der dünne Dietmar.
„Das Übliche! Im aktuellen Allgemeinzustand kann die Behandlung momentan nicht fortgesetzt werden. Wir bitten um Wiedervorstellung bei Verbesserung .“
„Das darf doch nicht wahr sein“, empörte sich Bruno. „Kann nicht mal jemand ein Rundschreiben an alle Kliniken aufsetzen, und sie darum bitten, dass dieser Mist nicht immer auf den Zetteln der austherapierten Patienten steht? Sonst kommen immer wieder Kranke in die Hospize, die uns fragen, wann ihre Behandlung fortgesetzt wird. Ich finde, dass die Leute durch dieses Herumdrucksen regelrecht von den Kliniken belogen werden.“
„Es gibt aber auch eine gute Nachricht“, sagte eine Pflegerin namens Melanie. „Frau Krause macht immer noch dreckige Witze! Neulich fragte sie mich glatt, was mir durch den Kopf ginge, wenn ich die kleinen Pimmel der männlichen Gäste sehen würde.“
„Frau Krause entstammt einer verklemmten Generation“, erklärte der Psychologe. „Sie hat lebenslang als Magd auf einem entlegenen Bauernhof schuften müssen. Ihre Phantasie ist so schmutzig, weil sie fast nie mit Menschen in Kontakt gekommen ist und dem Bauern höchstwahrscheinlich auch in anderer Hinsicht gedient hat. Wahrscheinlich fühlte sie sich dazu verpflichtet.“
„Inwiefern?“, fragte der Hospizleiter.
„In ihrem Pass steht, dass sie eine Jüdin ist“, sagte Andreas. „Bislang konnte ich noch nicht herausfinden, ob die alte Dame bereits während des 2. Weltkriegs Zuflucht auf dem Bauernhof gefunden hatte. Aber ich nehme es stark an. Außerdem sorge ich mich wegen Klärchens Verhältnis zu ihrer Tochter. Sabine Krause besucht ihre Mutter immer sonntags. Beim letzten Mal ist mir aufgefallen, dass sich Mutter und Tochter wie Rivalinnen benehmen, sobald ein Mann im Zimmer ist. Dann werden beide anzüglich.“
Nach einer kurzen Schweigepause erkundigte sich der Heimleiter, wie sich Bella Schiffer einlebte.
„Die schöne Bella?“ Bruno zog sein Notizbuch hervor. „Ab und zu schläft Frau Schiffer noch zuhause. Ihr Appetit ist eingeschränkt, das Wohlbefinden ebenfalls. Außerdem behauptet sie, dass Geld aus ihrem Nachttisch verschwunden sei.“
„Wie bitte?“ Der Hospizleiter horchte auf.
„Schwer zu sagen, ob das wahr ist“, beruhigte ihn Bruno. „Bellas Töchter sind alle arbeitslos. Außerdem hat sie der Ältesten neulich heimlich ihre EC-Karte geliehen. Ich glaube, dass es sich bei dem vermeintlichen Diebstahl in Wirklichkeit um eine Schutzbehauptung handelt, damit sie ihrem Mann nicht gestehen muss, dass sie den Kindern heimlich Geld zusteckt.“
„Wie geht es ihr psychisch?“
Andreas antwortete umgehend. „Mit Bella Schiffer werde ich in einen intensiven Diskurs über ein Thema gehen, das sie am stärksten beschäftigt – die Angst vor dem körperlichem Verfall und dem Verlust ihrer Schönheit. Zwar sind mittlerweile erste Anzeichen für eine Gelbfärbung der Haut erkennbar, doch Frau Schiffer war nicht umsonst eine Schönheitskönigin, bevor sie jahrelang ein Catering-Unternehmen und später einen Beauty-Salon geführt hat.“
„Wird Sie psychisch zusammenbrechen, falls die Krankheit sie optisch zeichnet?“, fragte der Hospizleiter.
Andreas holte zu einer langen Erklärung aus. „Frau Schiffer hat ihre Diagnose erst im Oktober erhalten. Mir gegenüber hat sie als erstes die Sorge geäußert, dass sie ihre Haare verlieren und dass ihr Ehemann sie dann nicht mehr lieben könnte. Es kann brisant werden, wenn sie glaubt, dass sie andere Menschen optisch abstößt. Außerdem hofft sie, wieder gesund zu werden. Sie wünscht sich nichts so sehr wie Umkehr. Diese Hoffnung verkleidet sie als den Wunsch eines kleinen Nachbarkindes. Bei Frau Schiffer wird es noch ein gewaltiges Aufbäumen geben. Außerdem schwebt bei ihr noch ein weiteres, nicht zu unterschätzendes Problem im Raum.“
„Worauf spielen Sie an?“, hakte der Hospizleiter nach.
„Frau Schiffer hat von ihrem Hausarzt eine
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