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Die Flockenleserin. Ein Hospiz, 12 Menschen, ein Mörder.

Die Flockenleserin. Ein Hospiz, 12 Menschen, ein Mörder.

Titel: Die Flockenleserin. Ein Hospiz, 12 Menschen, ein Mörder. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mike Powelz
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Überlebensprognose von vier Wochen erhalten. Das wird sich fatal auswirken. Denn inzwischen sind 18 Tage vergangen. Innerlich zählt sie die restliche Zeit herunter. Sie glaubt, dass sie in vierzehn Tagen stirbt.“
    „Haben Sie ihr nicht gesagt, dass von solchen Prognosen nichts zu halten ist?“
    „Natürlich“, antwortete Andreas. „Doch es ist das alte Problem: Wenn ein Gast eine konkrete Prognose im Hinterkopf hat, kreisen all seine Gedanken nur noch um eines – um Tag X.“
    „Das müssen wir im Auge behalten.“ Falk Bergers Stimme klang wie ein Befehl. Er erkundigte sich nach Professor Pellenhorn.
    „Berthold Pellenhorn leidet unter extremer Verstopfung und er möchte gern abführen“, sagte Bruno. „Trotz Bauchkrämpfen und Übelkeit weigert er sich, Laxoberal einzunehmen. Stattdessen möchte er, dass wir ihm ein russisches Abführpräparat bestellen. Außerdem nehmen seine Schluckkrämpfe zu.“
    „Dann sollten wir ab jetzt ein Handtuch um seine Türklinke wickeln“, meinte Dr. Coppelius. „So können wir die Tür zu Zimmer 5 jederzeit lautlos öffnen, ohne dass sie ins Schloss fällt.“
    „Psychisch mache ich mir gar keine Sorgen um Pellenhorn“, sagte Andreas. „Ich habe selten einen Gast erlebt, der dermaßen mit sich im Reinen ist. Hinter ihm liegt ein erfülltes Leben als Politiker. Mit seiner Gattin ist er um die ganze Welt gereist. Und er hat einen naturwissenschaftlichen Blick auf den Tod. Laut eigener Aussage sieht er sich im Winter seines Lebens – und den findet er wunderschön. Außerdem ist Berthold Pellenhorn eine große Stütze für die anderen Gäste. Er sorgt sich nur um zwei Dinge: Dass sich Frau Prinz und Frau Schiffer nicht mit ihrem Los arrangieren können.“
    „Nun zu Cristiano…“
    „Cristiano hat nach wie vor schlechte Laune“, verriet Bruno. „Er verweigert alle Medikamente, weil er befürchtet, dass das Morphium seinen Geist vernebelt. Er will es nicht mal ausprobieren – obwohl er starke Schmerzen hat.“
    „Ist da nichts zu machen?“ Falk Berger schien seine Frage an Dr. Coppelius zu richten, denn der Schmerztherapeut ergriff das Wort. „Überhaupt nicht. Für Cristiano ist Novalgin das absolute Maximum. Er will kein Versuchskaninchen sein.“
    Bruno schilderte seine Beobachtungen knapp und präzise: „Mittlerweile will Cristiano Vernandez sein Nachtmahl bereits um 17 Uhr haben. Neulich hat er die Stacheln ausgefahren, als die Heilpraktikerin gekommen ist. Er klagt immer noch darüber, dass ihm das Geld für die organisierte Sterbehilfe fehlt.“
    „Da droht uns noch einiges“, ahnte Andreas. „Cristiano definiert sich nur über Widerstand. Er erinnert mich an Frau Mimosa. Erinnert Ihr euch noch an diesen Gast? Das war die alte Dame mit den steifen Hemdkragen, die immer so knurrig war! Wochenlang hat sie das ganze Haus schikaniert. Ich weiß noch, wie sie mich zusammengefaltet hat, als ihre letzten Kräfte wegbrachen und sie die Zigarette nicht mehr in der Hand halten konnte.“
    „Wie wurde ihr Problem gelöst?“, fragte der dicke Dietmar.
    „Als nichts mehr ging, sind wir trotzdem respektvoll und liebevoll mit ihr umgegangen. Da hat sie erkannt, dass sie nicht barsch sein musste, um trotzdem alles zu bekommen, was sie haben wollte. Wir nahmen sie so an, wie sie war. Ich erinnere mich genau, dass ihr vereistes Herz zuletzt warm wurde und sie plötzlich lächelte.“
    Andreas’ Stimme wurde bedeutungsschwanger. „So werden wir es auch bei Cristiano machen. Wir tragen alle Stimmungen mit. Dann kann er akzeptieren, dass er nicht wieder gesund wird. Für mich ist diese Phase nach wie vor der Punkt der größten Ehrlichkeit – und eine Etappe, in der sich fast alle Probleme mit Witz und Humor lösen lassen. Es sei denn, ein Bewohner hat sich nie geborgen gefühlt und ist mit sich selbst nicht im Reinen.“
    „Schätzen Sie Cristiano so ein?“, fragte Falk Berger.
    Andreas’ Antwort folgte auf den Fuß. „Momentan definiert sich Cristiano nur durch Widerstand. Er will Zorn hervorrufen. Das beweist ihm, dass er noch lebt. Aber wenn ihm die Fäden aus der Hand gleiten, wird er sich fragen müssen, wer er eigentlich ist. An diesem Punkt werde ich ihn beschützen wie ein Vater, der ihn bedingungslos liebt. Dann lernt Cristiano, dass er sich auch durch das Annehmen von Nähe definieren kann.“
    „Im Zusammenhang mit Cristiano möchte ich noch das Thema unseres nächsten Workshops ansprechen“, sagte Dr. Coppelius. „Es lautet palliative

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