Die Flockenleserin. Ein Hospiz, 12 Menschen, ein Mörder.
.“
Andreas nickte bestätigend. „Außerdem gab es früher religiöse Trostfibeln, die Ars moriendi genannt wurden. Diese Büchlein hatten eine wichtige Funktion: Sie linderten das Leid der Angehörigen, die um einen Verstorbenen trauerten – und lehrten sie zugleich, wie sie ihr Familienmitglied in der Sterbephase unterstützen konnten. Damals fand der Tod noch mitten im Leben statt, und in seinem Angesicht wurde gefeiert – nach dem Motto Der Karfreitag folgt erst nach dem Karneval .“
„Ich habe noch nie einen Toten gesehen“, gestand Bella.
„Damit liegen Sie voll im Trend. Im Zeitalter der Moderne wurde das Sterben immer stärker aus dem Alltag ausradiert. Plötzlich übernahmen öffentliche Institutionen das Sterben, wie zum Beispiel Bestattungsunternehmen. Dadurch wurde es den Menschen immer fremder. Das Sterben wurde tabuisiert, und als ein tragischer Unglücksfall betrachtet. Gleichzeitig entstand jene Distanz, die wir heute in Traueranzeigen finden, etwa Von Beileidsbekundungen am Grab bitten wir abzusehen oder Er wurde in aller Stille beigesetzt. Die modernen Menschen finden Luftballons am Grab abstoßend. Sie haben den Tod so gründlich aus ihrem Leben vertrieben, dass die meisten Erwachsenen noch nie eine Leiche gesehen haben, obwohl Sonntag für Sonntag im Tatort gestorben wird.“
Andreas blickte Minnie an. „Jetzt komme ich zu Ihrer eigentlichen Frage. Der körperliche Sterbeprozess verläuft fast immer ohne Qual. Der psychische Prozess jedoch beinhaltet Phasen, die die Sterbeforscherin Elisabeth Kübler-Ross ausführlich beschrieben hat.“
„Welche Phasen sind das?“, fragte Annette.
„Furcht, Zorn, Verleugnung, Verhandlungswillen und Akzeptanz“, antwortete Dr. Albers. „Diese Phasen wechseln sich ständig ab. Das lässt sich auch in Haus Holle beobachten. Unsere Gäste schwanken ständig zwischen Wut und Angst. Am Morgen sind sie vielleicht verärgert über ihre Diagnose, am Mittag schöpfen sie bereits neue Hoffnung, abends liegen sie traurig im Bett – und am nächsten Tag bestellen sie das neueste Medikament aus den USA. Für mich ist es völlig normal, dass jemand, der bald sterben muss, mal traurig, mal panisch und mal zornig ist. Für die Angehörigen ist das oft schwer. Ihnen empfehle ich fast immer, Das tibetische Buch vom Leben und vom Sterben von Sogyal Rinpoche zu lesen. Es bringt das Thema perfekt auf den Punkt. Ich borge es Ihnen gern mal aus.“
„Aber ich dachte immer, dass die Menschen unter Qualen sterben“, sagte Bella.
„Das glauben fast alle“, erwiderte Dr. Albers, „weil so ein großes Geheimnis um den Tod gemacht wird! Die Krankenhäuser verbessern gar nichts an diesem Irrglauben. Für die meisten Ärzte ist der Tod eines Patienten ein persönliches Versagen. Ich habe oft gehört, dass Kliniken auf drei unterschiedliche Arten mit Sterbenden umgehen.“
„Wie denn?“, fragte Minnie.
„In den meisten Fällen wird der Tod von denjenigen, die in Kliniken arbeiten, ignoriert, weil der Stationsablauf vorgeht.
„Und die anderen Umgangsweisen?“, hakte Minnie nach.
„Am zweithäufigsten werden Sterbende abgeschoben. Viele Ärzte und Krankenschwestern erkennen zwar die Anzeichen der finalen Phase , aber sie schieben Sterbende schnell hinter die spanische Wand. Sie wollen Unruhe vermeiden. Deshalb sterben viele Kranke ganz allein in Kliniken.“
„Aber es gibt auch Krankenschwestern, die sich den Arsch aufreißen“, rief Bruno, der plötzlich im Esszimmer aufgetaucht war. „Ich habe mal im Krankenhaus gearbeitet. Was die Schwestern neben dem Arbeitsstress leisten, hat mich immer am meisten berührt.“
„Stimmt genau“, bestätigte Andreas. „Das ist die dritte Form des Umgangs mit dem Tod in modernen Kliniken. Außerdem gibt es dort immer mehr Palliativstationen. Aber sie sind – meiner Meinung nach – noch nicht so gut ausgestattet wie ein Voll-Hospiz.“
„Klingt ja furchtbar“, sagte Bella. „Jetzt kann ich noch weniger verstehen , warum so viele Todkranke ins Krankenhaus wollen. Heißt das, man sollte sich gegen das Sterben in einer Klinik wehren?“
„Nein“, antwortete Andreas. „Aber man sollte sich nur in die Krankenhausmaschinerie begeben, wenn man genau weiß, was man will. Todkranke, die sich gar nicht mit dem eigenen Sterben auseinandersetzen möchten, sind in Kliniken tendenziell gut aufgehoben – genau wie alle, für die ihre Lebenszeit wichtiger ist als die Lebensqualität. Zwar liegen sie oftmals nur noch an
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