Die Flockenleserin. Ein Hospiz, 12 Menschen, ein Mörder.
würde gern mal ein paar Takte mit ihr reden und ihr meine Meinung geigen… Jetzt muss sie mir ja zuhören…“
Minnie und Nepomuk hatten Locken und Fangen gespielt: Wenn die alte Dame sich vorbeugte, in die Hände klatschte und Lockrufe ausstieß, lief der Kater auf sie zu. Doch bevor es zu einer Berührung kam, entfernte sich das Tier wieder.
Das hatte sich bereits sechs Mal wiederholt, und Minnie entschloss sich, das Spiel abzubrechen. Als sie sich aufrichtete, überkam sie plötzlich ein Schwindel, und der lange Flur verwandelte sich in einen Tunnel.
Ein Tunnel, an dessen Ende, eine rothaarige Frau in einem Kimono stand – direkt vor der Tür der Knopinskis. Minnie konnte nicht erkennen, ob es sich um Marisabel handelte oder um Omi. Weder die Statur noch die Bewegungen der Frau ließen auf eine der beiden Mitbewohnerinnen schließen.
Sie kniff die Augen zusammen. Als die alte Dame sie wieder öffnete, war die Gestalt im Kimono verschwunden. Es war 22.45 Uhr, und der Schwindel übermannte Minnie erneut. Das Letzte, was sie vor dem Einschlafen hörte, waren die Klänge einer Arie von Anneliese Rothenberger, die aus dem zweiten Stock nach unten wehten: In mir klingt ein Lied, ein kleines Lied, in dem ein Traum von stiller Liebe blüht. Für dich allein…“
Kurz darauf wurde Minnie von einem lauten Knall aufgeweckt. Das musste die Eingangstür gewesen sein!
War jemand nach Hause gekommen? Jetzt, um 2:35 Uhr?
Nein, das Flutlicht über der Rampe ging an. Jemand hatte Haus Holle verlassen .
Im Haus war es totenstill.
Minnie fühlte sich, als sei sie ganz allein auf der Welt – allein mit dem Sofa und dem dunklen Flur. Einem düsteren Flur, der alles Mögliche in seinem Inneren verstecken konnte, schließlich war er pechschwarz und tief.
Gebannt starrte die alte Dame in den Gang.
Dann sah sie ihn wieder.
Den kleinen Menschen vom Vorabend. Er war schmal und kindlich, aber unverkennbar ein Greis. Schleichend trat er aus einer der vielen Türen. Für die Hälfte einer Millisekunde konnte Minnie sein Profil und die gemeinen Augen sehen. Im nächsten Moment hatte der dunkle Tunnel den unheimlichen Kindgreis schon wieder verschluckt.
Minnie presste die Hand vor den Mund, um einen Schrei zu unterdrücken. Rasch schlurfte sie zurück in ihr Zimmer und zog sich die Bettdecke über den Kopf. Kaum hatte sie die Augen geschlossen, umhüllte sie der Schlaf wie eine liebevolle, wärmende Schwester.
„Drei Uhr nachts“, seufzte Dietmar und nippte an seinem Kaffeebecher. „Endlich Ruhe!“
Für den Pfleger waren die letzten fünf Stunden die Pest gewesen. Fünfmal hatte er bei Cristiano gesessen, während Hendrik Berthold Pellenhorns Nacken auflockern musste. Der fröhliche Professor hatte falsch gelegen und es nicht bemerkt. Anschließend waren die Pfleger von Montrésor auf Trab gehalten worden, der erneut erwacht war und nach Pferdewurst verlangte. Zu guter Letzt hatte Dietmar Herbert Powelz im Stundentakt mit Tavor beliefert.
Jetzt fiel dem dicken Pfleger siedend heiß ein, dass er noch kontrollieren wollte, ob die Haustür zugesperrt war. Irgendwann in der Nacht, an den Zeitpunkt konnte er sich nicht mehr erinnern, war die Tür laut ins Schloss gefallen. Er eilte nach unten und fand sie offen vor.
Dietmar durchfuhr ein Schrecken. Nun hatte er keine andere Wahl, als die Anwesenheit jedes Gastes zu überprüfen – mit Ausnahme der Knopinskis und Bella Schiffer, die nicht gestört werden wollten. Der dünne Pfleger spähte in jedes Zimmer. Tatsächlich schliefen die Gäste fest. Eine unheimliche Ruhe hatte sich über Haus Holle gelegt.
„Was meinst Du, Hendrik?“, fragte der dicke Dietmar. „Zeit für Spaghetti und Eiscreme?“
„Und für eine Fluppe im Garten“, fügte sein erschöpfter Kollege hinzu.
Um 6.15 Uhr läutete Bella Schiffer nach Dietmar, und bat ihn um ein starkes Schlafmittel. „Ich liege schon seit Stunden wach! Die Matratze ist so hart. Ich möchte gern ein Mittel haben.“
Angeblich konnte die Schönheitskönigin nicht schlafen. In ihrem Zimmer roch es nach Haarspray, Champagner und kaltem Nikotin.
Dietmar gab ihr eine Schlafspritze, und lugte kurz in Adolfs Zimmer. Dort war alles in Ordnung.
Sein Blick fiel auf ein Türschild an der gegenüberliegenden Tür: Bitte nicht stören . Den Pfleger beschlich ein mulmiges Gefühl.
Er dachte: „Scheiß’ drauf!“
Schließlich hatte er den Wunsch der uralten Knopinskis während der ganzen Nacht respektiert.
Der
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