Die Flockenleserin. Ein Hospiz, 12 Menschen, ein Mörder.
Schläuchen, aber sie können den Tod dadurch noch paar Tage oder Wochen hinauszögern.“
„Und wenn man das nicht will?“
„Dann ist man besser im Hospiz aufgehoben. Hier bekommt man keine Untersuchungen und Maßnahmen aufgestülpt, wenn man nicht nein sagen kann. Außer auf den Palliativstationen in einer Klinik möchten die Krankenhausärzte meistens noch alles Mögliche ausprobieren – weil es immer mehr technische Möglichkeiten gibt. Dabei gerät die Frage ins Abseits, ob sie den Sterbenden wirklich einen Gefallen tun.“
„Aber medizinische Untersuchungen können doch nicht schlecht sein“, meinte Bella.
„Doch“, antwortete Andreas. „Ein gutes Beispiel dafür ist die Sauerstoffzufuhr am Sterbebett. Wir wissen längst, dass eine flachere Atmung bei Sterbenden völlig normal ist – und dass sie nur die Angehörigen verängstigt. Deshalb gibt es bei uns auch keine künstliche Sauerstoffzufuhr, außer auf ausdrücklichen Wunsch. Künstliche Sauerstoffzufuhr trocknet die Mundschleimhäute aus, und sie erzeugt ein quälendes Durstgefühl. Das gleiche gilt für Wasser-Infusionen! Wenn die Ärzte sterbenden Menschen Wasser zuführen, wird diese Flüssigkeit meistens nicht mehr ausgeschieden, weil die Nieren nicht mehr funktionieren. Irgendwo muss es ja hinwandern – und so landet es in der Lunge. Die Folge davon ist Atemnot. Wenn Ihr mehr darüber wissen wollt, lest mal das Buch Über das Sterben von Gian Domenico Borasio!“
Gebannt hingen die Gäste an Andreas’ Lippen. „Aber man muss doch was trinken“, warf Annette ein. „Sonst verdurstet man doch.“
„Nein“, belehrte Andreas. „Wer im Sterben liegt, erleidet keinen Durst, wenn man ihm den Mund befeuchtet. Wer nichts mehr isst, stirbt schneller und leichter – weil ihn die Kräfte verlassen. Hebammen wissen, dass sie bei den meisten Geburten so wenig wie möglich in den natürlichen Prozess eingreifen müssen. Das Gleiche gilt auch für das Sterben.“
Minnie war schockiert. Die alte Dame wusste, dass fast all ihre verstorbenen Familienmitglieder und Freunde Sauerstoff und Infusionen bekommen hatten. Konnten diese beiden Heilmittel die quälenden Symptome, die sie beobachtet hatte, wirklich erst hervorgerufen haben – obwohl sie davor schützen sollten?
„Ich möchte aber auch mal auf was ganz anderes hinweisen“, sagte Bruno. „Es gibt auch Kliniken, in denen Sterbende optimal behandelt werden. Einmal habe ich gelesen, dass ein Todkranker zu vier Männern in ein Fünfbettzimmer gelegt wurde, weil die Klinik voll belegt war. Natürlich musste der Arzt die gesünderen Patienten zuerst davon überzeugen, einen röchelnden Sterbenden bei sich aufzunehmen. Aber sie haben es getan, und eine 24-Stunden-Betreuung für ihn organisiert. Die Gesünderen haben den Sterbenden gefüttert, gewaschen und ihm Bücher vorgelesen. Als er starb, waren seine neuen Freunde anwesend. Später sagte einer der Männer, diese Tage seien die wichtigsten in seinem Leben gewesen.“
Minnie hob die Hand. „Du hast mir immer noch nicht gesagt, wie das Sterben konkret verläuft, Andreas…“
„Meistens total undramatisch“, antwortete der Psychologe. „Ein Mensch, der schon lange krank ist, wird immer schwächer. Seine Atmung wird flacher, sein Denken verwirrt. Die meisten Sterbenden befinden sich geistig längst in einer anderen Welt, wenn ihr Herz stehen bleibt. Doch ich will Dich nicht anlügen. Es gibt auch komplizierte Sterbeprozesse, die wir in unserem Hospiz jedoch perfekt meistern können. Meiner Meinung nach sterben positiv eingestellte Menschen tendenziell leichter. Wer das Leben nicht loslassen kann – und bis zur letzten Minuten kämpft – hat es hingegen häufig schwerer.“
„Stimmt“, sagte Bruno. „Sterben hat viel mit Vertrauen zu tun. Ab einem gewissen Punkt muss man loslassen können, und vertrauen, dass alles gut wird. Viele Sterbende würden gern gehen, weil sie spüren, dass es so weit ist. Doch ihre Familienmitglieder halten sich regelrecht an ihren Körpern fest. Sie bleiben tagelang im Sterbezimmer. Sie bedrängen die Sterbenden, etwas zu essen oder zu trinken.“
„Ist das nicht nachvollziehbar?“, fragte Bella. „Ich will auch nicht allein sterben.“
„Aber es sind zwei unterschiedliche Dinge, ob man jemanden bei sich hat oder von einer klammernden Hand festgehalten wird“, rief Bruno. „Wenn ein Mensch innerlich zum Sterben bereit ist, weil er darauf vertraut, dass er sich fallen lassen kann, weil alles gut
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