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Die Flockenleserin. Ein Hospiz, 12 Menschen, ein Mörder.

Die Flockenleserin. Ein Hospiz, 12 Menschen, ein Mörder.

Titel: Die Flockenleserin. Ein Hospiz, 12 Menschen, ein Mörder. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mike Powelz
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längst abgewöhnt, zu oft in den Spiegel zu sehen – vor allem, weil ich so stark an Gewicht verliere.“
    „Sie auch? Wie seltsam“, rief Omi mit weit aufgerissenen, erschrockenen Augen. Die winzige Dame starrte Marisabel ungläubig an. „Wir müssen alle mehr essen. Wir brauchen Substanz. Wir müssen uns aufpäppeln, statt zu lesen.“
    „Das sehe ich ganz anders“, meinte Barbara Pellenhorn, die ihren Mann fütterte. „Ich lese Berthold Abend für Abend aus dem Bestseller Das Ende ist mein Anfang vor. Das ist die rührende Biografie des Spiegel -Autoren Tiziano Terzani, der an Krebs erkrankt ist und mit seinem Sohn über sein Leben spricht. Die Dialoge sind so berührend, nicht wahr, Berthold?“ Hilflos sah sie der Gelähmte an, senkte die Lider und öffnete sie wieder. „Bbbbbbb, iiiiii…“, stieß er hervor.
    Niedergeschlagen streichelte Barbara die Wange ihres Mannes. „Ich kann Dich immer schlechter verstehen… Was möchtest Du, Berthold?“
    Professor Pellenhorn senkte die Lider. Speichel rann aus seinem Mund.
    „Willst Du etwas essen, Berthold?“
    „Nnnnnnnn…“, sagte der Kranke.
    Minnies Muskeln spannten sich an. Es brach ihr das Herz, zu sehen, dass der beleibte Herr, der noch vor kurzem der heitere Mittelpunkt der Tischrunde gewesen war, immer mehr verstummte.
    Aber genau wie Barbara Pellenhorn konnte auch Minnie nicht verstehen, was der Professor sagen wollte.
    „Fragen Sie Ihren Mann noch einmal“, forderte Marius Barbara auf. „Diesmal sollten Sie nur geschlossene Fragen stellen, die sich mit ja oder nein beantworten lassen. Dann kann Berthold die Lider senken, wenn er ja meint und sie öffnen, wenn er nein sagen möchte.“
    Der alte Freimaurer wandte sich Professor Pellenhorn zu. „Ist dieser Vorschlag in Ordnung“?
    Berthold senkte die Lider und öffnete sie wieder.
    „Er ist einverstanden“, bilanzierte Marius.
    „Dann mal los“, meinte Annette.  „Sind Sie traurig, Professor Pellenhorn?“
    Die Augen blieben geöffnet.
    „Auuuuuu…“, sagte der Professor stoßweise und seine Pupillen traten hervor.
    „Auuuuuu?“, fragte Annette ungläubig. „Juckt Sie vielleicht Ihre Wange? Sollen wir Sie irgendwo kratzen?“
    Berthold weinte eine Träne. 
    „Hätte ja sein können“, meinte Angie. „Gar nicht so ein abwegiger Gedanke, dass einem irgendeine Körperstelle juckt, man sich aber nicht mehr kratzen kann – und einen keiner versteht.“
    „Wir wollen es noch einmal probieren“, meinte Marius. „Ich bitte um totale Ruhe. Sagen Sie uns noch einmal, was Sie möchten, Professor Pellenhorn.“
    „Auuuuu…“, rief Berthold. „Auuuuuu…“
    „Au?“ Bruno sah den Herrn im Rollstuhl fassungslos an. „Also doch Schmerzen! Aber wie kann das sein? Er bekommt dreimal am Tag fünf Milligramm Morphium. Das hilft nicht nur gegen den Speichelfluss, sondern lindert auch die Schmerzen. Ob wir die Dosis erhöhen müssen?“
    Inzwischen weinte Professor Pellenhorn hemmungslos. Hilflos wanderten seine Augen durch den Raum. Zuerst klebten sie an Marius, dann richteten sie sich starr auf Minnie. „Auuuuuuuuuuuuu…“ Die langgezogene Silbe quoll erneut aus seinem Mund. Sie wurde immer länger und länger.
    „Ich werde Dr. Coppelius rufen“, sagte Bruno und drückte auf den Alarmknopf. Wenige Sekunden später eilten der  Schmerztherapeut und der Psychologe  ins Esszimmer.
    Dr. Coppelius blickte in Pellenhorns Augen. „Wie geht es Ihnen?“, fragte er. Die Antwort w ar ein langgezogenes „Auuuuuuu.“
    „Schmerzen“, diagnostizierte Coppelius. „Es müssen einfach Schmerzen sein. Wir bringen Sie jetzt nach oben, Professor Pellenhorn. Heute Abend wird es Ihnen bereits besser gehen.“
    Berthold schloss die Augen.
    Minnie jedoch spürte, dass sie alle falsch lagen. Professor Pellenhorn litt nicht unter Schmerzen. Er hatte etwas völlig anderes sagen sagen wollen. Bloß was? 

Der unheimliche Kindgreis
     
     
    „War das schrecklich!“
    Marisabel fröstelte. „Wenn ich mir vorstelle, dass ich in meinem eigenen Körper gefangen wäre und niemand verstehen kann, was ich sagen will… Nicht auszudenken. Kann man gar nichts tun für den Professor?“
    „Wie gesagt: Heute Abend wird es Pellenhorn bereits besser gehen“, sagte Bruno. „Dessen können Sie gewiss sein.“
    Auch Minnie war angeschlagen. Die Szene hatte ihr stark zugesetzt. Am meisten wunderte sie sich darüber, dass Berthold Pellenhorn sich so unverstanden fühlte. Die alte Dame glaubte nicht, dass die

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