Die Flockenleserin. Ein Hospiz, 12 Menschen, ein Mörder.
ihr wesentlich leichter.
„Was reizt Sie an Agatha Christies Romanen?“
Der Reporter antwortete ohne zu zögern. „Sie hat einen unglaublichen Blick für die psychologischen Feinheiten der menschlichen Seele – und sie ist eine Meisterin in der Kunst, feine Köder auszulegen, bevor sie ihre verschlagenen Mörder entlarvt.“
„Welcher der Kriminalromane von Agatha Christie gefällt Ihnen am besten?“
„ Rächende Geister “, erwiderte der Journalist. „Dieser Kriminalfall spielt im Alten Ägypten. Und es sterben – wie in Zehn kleine Negerlein – fast alle Hauptpersonen. Ich glaube, dass aufmerksame Leser von Agatha Christie Gratiskurse in Psychologie bekommen. Und dass sie die dunklen Seiten anderer Menschen schneller erkennen können als Leute, die noch nie einen dieser Kriminalromane gelesen haben. Die gute alte Agatha kurbelt die Phantasie ihrer Leser total an!“
Minnie war erstaunt. Aus dieser Perspektive hatte sie die Bestsellerautorin, der sie das Prädikat trivial verliehen hatte, noch nie betrachtet. Ohnehin kannte sie nur die Verfilmungen der populärsten Fälle – vier alte Schwarzweißfilme mit Margareth Rutherford als Miss Marple sowie Mord im Orient-Express und Tod auf dem Nil mit Peter Ustinov als Hercule Poirot.“
„Warum lesen Sie ausgerechnet Krimis?“
„Ich lese sie nicht“, sagte der junge Mann. „Ich verschlinge sie! In Kriminalromanen steuert die Spannung immer auf den Moment zu, in dem das letzte Rätsel gelöst wird. Außerdem geht es immer um den Tod. Am meisten mag ich jene Krimis, in denen starke Menschen sterben – Figuren, die vorsichtig sind, weil sie wissen, dass ihnen ein Mörder auf den Fersen ist.“
Das konnte Minnie beim besten Willen nicht nachvollziehen.
Mike erklärte ihr seine Ansichten. „Ehrlich gesagt, habe ich Angst vor dem Tod. Aber er fasziniert mich auch. Wenn starke Menschen, die auf der Hut sind, heimtückisch dahin gerafft werden, geht es immer um den ultimativen Kampf des Lebens gegen den Tod.“
„Um das zu verstehen, brauche ich ein Beispiel“, sagte Minnie und eroberte den Opernplatz. Es war ihre zweite rote Karte nach der Museumsstraße.
„Ein Beispiel also?“ Mike musste nicht lange überlegen. „Ein Beispiel ist der Tod einer alten Dame in Agatha Christies Rächende Geister . Die Großmutter ist das Familienoberhaupt. Sie kennt die guten und schlechten Seiten ihres Clans, und sie weiß, dass es einen intriganten Mörder innerhalb der eigenen Reihen gibt. Der Meuchelmörder hat bereits mehrere Morde auf dem Gewissen – und die Alte ist sehr vorsichtig. Jede ihrer Speisen wird von einer Sklavin vorgekostet, bevor sie ihren Hunger stillt. Außerdem verriegelt sie ihre Zimmertür, bevor sie schlafen geht. Doch der Tod lässt sich nicht aussperren. Der Mörder vergiftet ihre Körperlotion.“
„Und das finden Sie faszinierend?“
„Ja! Es ist ein Sinnbild für den realen Tod. Wenn er einen ins Visier genommen hat, kann man ihm nicht mehr entkommen.“
Mike kaufte seinen dritten Bahnhof. „Oder nehmen wir die alte Konsulin Elisabeth in Thomas Manns Roman Buddenbrooks . Sie hat sich ihr Leben lang konserviert und alle männlichen Familienmitglieder überlebt. Doch die Zeichen ihres Verfalls sind unübersehbar. Zuerst beginnt sie mit dem Färben ihrer Haare, dann legt sie sich heimlich eine Perücke zu. Die Konsulin liebt den Luxus – das Sinnbild für Ausschweifung und Verdrängung. Nach und nach sterben all ihre Lieben. Die Anzahl der Familienmitglieder verringert sich immer mehr. Sie jedoch hält sich wacker und lebt weiterhin für den schönen Schein. Als Leser weiß man die ganze Zeit, dass es sie trotzdem bald erwischen wird. Man fragte sich bloß, was sich Thomas Mann für sie ausgedacht hat.“
„Was stößt ihr zu?“, fragte Minnie gespannt.
Die alte Dame ärgerte sich, dass sie meistens bei Utta Danella geblieben war. Was Mike ihr erzählte, war viel spannender als die Schilderungen eines romantischen Kusses unter dem Sternenhimmel.
„Am Heiligen Abend muss die Konsulin plötzlich husten. Aus einem kleinen Kratzen in ihrem Hals wird eine doppelseitige Lungenentzündung. Misstrauisch beäugt sie den Krankheitsverlauf und hält sich streng an die Anweisungen der Hausärzte. Letztlich jedoch ist alles vergebens. Ihr Todeskampf wird über mehrere Seiten geschildert. Kurz, bevor sie stirbt, bittet sie um ein Mittel . Als sie erlöst wird, ruft sie: Hier bin ich !“
„Damals war das bestimmt realistisch“,
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