Die Flockenleserin. Ein Hospiz, 12 Menschen, ein Mörder.
Sie?“
„Heißt das, dass Herr Knopinski Sie nachts besucht hat?“
Klärchen Krause streifte ihr Oberteil herunter und streckte ihm die Hände entgegen. „Ja… Tut ganz schön weh, wenn man sich nackt vors Fenster knien muss“, sagte sie mit brüchiger Stimme. „Die Schläge von hinten – und von vorn der Winterwind. Es war so eisig wie auf dem Hof. Aber der Gürtel… Nein, Knopinskis Gürtel tat mir nicht weh. Ich bin schließlich völlig gesund. Ich kann was wegstecken. Der Bauer hat es mich gelehrt. Die anderen schlucken Morphium. Ich bekomme nur Krafttabletten. Oder glauben Sie, dass man mir heimlich Morphium verabreicht?“
Herausfordernd sah sie Mike an. „Was glauben Sie? Ob die jungen Pflegerinnen wohl komische Gedanken haben, wenn sich Montrésor nackt auszieht? Ob sie ihm dann wohl auf den Penis schauen? Neulich war Montrésor nachts nebenan – in der Nacht, als die alten Knopinskis schliefen. Ich habe es durchs Schlüsselloch gesehen. Er war splitterfasernackt! Hier wohnen wirklich seltsame Leute. Gut gefällt es mir nicht, dass Sabine mich hier abgesetzt hat. Gott sei Dank kann ich jederzeit gehen. Bloß auf den Hof darf ich nicht zurück. Sabine soll mir eine schöne Wohnung suchen, wenn ich mich aufgepäppelt habe. Wie finden Sie mein schwarzes Nachthemd?“
Aufreizend nahm sie das Negligé in ihre Hand und ließ es durch die groben Finger gleiten. Dann drückten die dicken Lippen der ehemaligen Magd einen Kuss auf den schwarzen Chiffon. „Dieses Nachthemd ist das Schönste, was der Bauer mir jemals geschenkt hat. Es ist das Schönste, das ich besitze. Sabine hätte es nie gepasst. Sie ist viel zu dick. Und was sagen Sie zu meinen Perücken? Die rote heißt Oje-Oje – habe ich das schon verraten? Ich trug sie immer an den Tagen, die wir Frauen monatlich haben… Wenn der Bauer nicht kommen konnte… Sie wissen schon. Gott sei Dank geht es mir heute gut. Heute trage ich Olivia . Heue bin ich blond. Soll ich mein Nachthemd mal anziehen und es Ihnen vorführen? Haben Sie Lust auf eine Partie Mensch ärgere Dich nicht ?“
Sie rülpste laut, und erbrach etwas Blut. „In den Nachtstunden, in denen mich Knopinski besuchte, musste ich alle Perücken ablegen. Er wollte mich nackt – auch auf dem Kopf. Er konnte so schrecklich schimpfen, und so böse Sachen sagen. Er hatte den bösen Blick. Er wollte immer Mensch ärgere Dich nicht mit mir spielen.“
Ein schrecklicher Unfall
Das Zentrum von Zimmer 3 war ein moderner Massagesessel. Unter einer großen Leselampe saß Adolf Montrésor inmitten einer Rauchwolke.
Der Mann mit der seltsamen Frisur redete ungebremst auf Mike ein. „Erst brach mein Krebs aus, dann wurde Alzheimer bei meiner Frau festgestellt, dann stürzte sie und jetzt liegt sie auch noch in Quarantäne, weil in der Klinik ein hoch ansteckendes Virus umgeht. Wir sind vollends voneinander getrennt. Und das in meiner Situation! Kann es wirklich sein, dass zwei Ehepartner so auseinandergehen müssen? Und dann dieser schreckliche Uhrglasverband! Der Tumor drückt von innen gegen mein Auge. Ich kann es nicht mehr richtig öffnen. Wussten Sie, dass Krebs aus den Eiern bis in den Kopf wandern kann? Ich nicht!“
„Neulich sollen Sie nachts geschlafwandelt sein“, sagte Mike.
„So ein Scheiß! Seit der Krebs in meiner Birne angekommen ist, leider ich immer öfter unter Wahrnehmungsstörungen. Es fing mit kleinen Ungeschicklichkeiten an. Hier ein verschüttetes Glas, da eine umgestürzte Vase. Mal schwitze ich, mal ist mir kalt. Dr. Aracelis hat mir erklärt, dass Hirntumore stündlich neue Zentren im Kopf beeinträchtigen können. Wenn sie zum Beispiel aufs Temperatur-Regulierungszentrum drücken, friere ich plötzlich – oder ich brenne wie in der Hölle. Obwohl ich gar kein Fieber habe! Und manchmal sehe ich Dinge doppelt. Ich bin immer öfter wuschig.“ Er inhalierte den Rauch seiner Zigarette.
„Haben Sie Angst vor dem Sterben , Montrésor?“
„Kein bisschen“, antwortete Adolf. „Ins Gras müssen wir alle mal beißen. Wenn ich den Löffel abgeben werde, ist es an der Zeit gewesen. Aber ich kann wenigstens sagen, dass ich mein Leben gelebt habe. Auch wenn es für die Arbeit war. Bis vor einem Jahr habe ich als Architekt für ein internationales Großunternehmen gearbeitet.“
Montrésor deutete auf ein eingerahmtes Foto auf seinem Nachttisch, das einen gesund aussehenden, tiefgebräunten Mann vor der Baustelle von Klaus Wowereits Berliner Pannen-Flughafen
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