Die Flotte von Charis - 4
waren eben nicht mehr ›normal‹, und Sir Rayjhis zweifelte ernstlich daran, dass sich das jemals wieder ändern würde.
Er legte die Stirn in Falten, schaute weiterhin aus dem Fenster seines Büros und ließ den Blick über die sonnenbeschienenen Dächer von Siddar hinweg zum dunkelblauen, glitzernden Wasser der Nördlichen Bedard-Bucht schweifen. Die Nördliche Bedard-Bucht − die der Einfachheit halber meist nur als die ›Nordbucht‹ bezeichnet wurde, um sie von der eigentlichen Bedard-Bucht besser unterscheiden zu können − war mehr als zweihundert Meilen breit, und der Kanal, der die beiden Gewässer miteinander verband, maß kaum dreißig Meilen. Die eigentlichen Fahrrinnen waren sogar noch schmaler, und die Republik hatte keinerlei Kosten und Mühen gescheut, auf der Untiefe, vor der sich die beiden Hauptfahrrinnen am nahesten kamen, Castle Rock Island zu errichten und dort gewaltige Geschütze in Stellung zu bringen. In mancherlei Hinsicht war Castle Rock das Gegenstück dieser Republik zu Lock Island, auch wenn keiner der beiden Teile der Bedard-Bucht jemals für die Entwicklung der Republik von ähnlicher Bedeutung gewesen war, wie die Howell Bay für Charis.
Doch dies alles machte Siddar zu einem bemerkenswert sicheren Hafen. Mit Piraterie hatte es hier noch nie sonderliche Probleme gegeben, und am Ufer und im Hafenviertel mit den Lagerhäusern herrschte normalerweise geschäftiges Treiben, fast wie in Charis. Und da dies einer der wichtigsten Häfen von ganz West-Haven war, gab es hier zugleich auch eine der größten Charisianer-Siedlungen außerhalb des Königreiches selbst.
Das alles sorgte dafür, dass sich in der Stadt widerstreitende, äußerst gefährliche Strömungen der öffentlichen Meinung ausbreiteten, seit der Konflikt zwischen Charis und den Feinden eben jenes Königreiches zu einem offenen Krieg geführt hatte. Die Anspannung war schon schlimm genug gewesen, als alle noch damit beschäftigt waren, sich und anderen einzureden, die Ritter der Tempel-Lande und der Rat der Vikare − oder zumindest die ›Vierer-Gruppe‹ − seien strikt voneinander getrennt zu betrachten. Seit jedoch Erzbischof Maikels brandmarkendes Schreiben in Zion eingetroffen war (und soweit Sir Rayjhis das beurteilen konnte, zeitgleich auch in jeder einzelnen Hafenstadt auf ganz Safehold), hatte sich dieser Vorwand, diese Täuschung, diese juristische Fiktion, als eben genau das herausgestellt. Und entsprechend war die Anspannung in der Republik immer weiter angestiegen.
Selbst diejenigen, die nicht allzu viel von der ›Vierer-Gruppe‹ halten, machen sich entsetzliche Sorgen, dachte Dragoner. Und bei den hartgesottenen Tempelgetreuen ist es sogar noch schlimmer. Das einzig Gute ist, dass die extremeren Tempelgetreuen sich bei den Siddarmarkianern bereits immens unbeliebt gemacht haben, bevor uns dieser ganze Schlamassel hier um die Ohren geflogen ist. Bedauerlicherweise kann es jetzt nur noch schlimmer werden. Was in Gottes Namen haben sich Cayleb und Staynair denn bloß dabei gedacht?!
Die Falten auf seiner Stirn wurden noch tiefer, als ihm eine äußerst unangenehme Wahrheit bewusst wurde. Trotz seiner eigenen Vorbehalte der ›Vierer-Gruppe‹ gegenüber, gehörte Sir Rayjhis Dragoner zu den Charisianern, die diese offene Spaltung zwischen Tellesberg und dem Tempel zutiefst entsetzte. Die Treue zwei verschiedenen Herren gegenüber gleichzeitig zerrte an ihm, und er ertappte sich selbst dabei, darauf zu hoffen − und regelmäßig darum zu beten −, dass sich dieser unausweichliche Konflikt zwischen dem Königreich, das er liebte, und der Kirche, die er verehrte, irgendwie doch noch würde abwenden lassen.
Aber das wird nicht geschehen, dachte er traurig. Nicht, wenn die Wahnsinnigen auf beiden Seiten es so sehr darauf anlegen. Dennoch …, so musste er sich fast widerwillig eingestehen, … man kann es Cayleb wohl kaum verübeln, wenn man bedenkt, was die ›Vierer-Gruppe‹ zu tun versucht hat. Und wie auch immer ich persönlich über Staynairs Schreiben denke, mit seinem Vorwurf über den Amtsmissbrauch und die Korruption in der Kirche hat er ganz und gar recht. Aber es muss noch eine andere Möglichkeit geben, diesen Missbrauch einzudämmen! Mutter Kirche hat sich seit dem Tag der Schöpfung selbst um die Seelen der Menschen gekümmert. Sieht denn wirklich niemand, wohin eine Spaltung der Kirche unweigerlich führen wird?
Das war eine Frage, die für ihn in vielerlei Hinsicht von immenser
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