Die Flotte von Charis - 4
Fenster blickte.
Normalerweise fiel ihm das nicht sonderlich schwer. Von allen Botschaften, zu denen ein ehrgeiziger Diplomat versetzt werden konnte, war die in der Stadt Siddar wahrscheinlich die reizvollste. Jeder Charisianer würde sich natürlich auch hier mit dieser grundlegenden, fast unbewussten Arroganz aller Bürger dieser Stadt abfinden müssen. Sie legten sie vor allem all jenen gegenüber an den Tag, die aus einer Gegend stammten, die selbst noch die Gemäßigten der Festlandsbewohner als ›die abgelegenen Inseln‹ bezeichneten. Die Siddarmarkianer waren nicht ganz so schlimm wie die meisten anderen ›Festländler‹, doch sie waren immer noch schlimm genug.
Doch von diesen Kleinigkeiten abgesehen, war die Republik gewiss der Ort auf dem Festland, der jedem Charisianer noch am ehesten zupasse kam. Siddarmark hielt streng an ihrer uralten Regierungsform der Republik fest, und Gesellschaft und Sitten gleichermaßen waren längst nicht so sehr in Schichten aufgeteilt, wie es bei den weitaus meisten anderen einflussreichen Staaten auf Safehold der Fall war. Das hielt die Republik nicht davon ab, ihren eigenen großen Dynastien Raum zu bieten − letztendlich war dies, außer vom Namen her, ein Erbadel, der so mächtig war wie der anderer Länder auch −, und auch wenn es hier deutlich weniger Vorurteile gegen diejenigen gab, deren Wohlstand aus dem ›Handel‹ stammte als in den anderen Reichen auf dem Festland, waren sie doch immer noch ausgeprägter als in Charis. Trotzdem vermochten die Siddarmarkianer deutlich besser mit den gelegentlich geradezu ungeheuerlichen gesellschaftlichen Ideen aus Charis umzugehen, und zu ihrer gemeinsamen Identität eben als Siddarmarkianer gehörte auch eine kräftige, durchaus als solche erkannte und geradezu sture geistige Selbstständigkeit, die sie bewusst und willentlich als einen Aspekt ansahen, der ihre nationale Persönlichkeit definierte.
Zweifellos, so ging es Dragoner durch den Kopf, erklärt diese Unabhängigkeit auch einen Großteil der traditionellen Spannungen zwischen der Republik und der Tempel-Landen. Trotz entsprechender Albträume, die ganz offensichtlich die Ritter der Tempel-Lande von Zeit zu Zeit plagten, hatte doch kein Reichsverweser der Siddarmark jemals ernstlich in Erwägung gezogen, einen Eroberungsfeldzug gegen sie zu starten, so verführerisch dieses Ziel dank seines Wohlstandes auch sein mochte. Das jedoch hatte ganze Generationen von Kanzlern der Kirche nicht davon abgehalten, sich immer weiter Sorgen darum zu machen, eines Tages könne ein größenwahnsinniger Reichsverweser genau das eben doch tun. Und in mancherlei Hinsicht schlimmer noch (weil deutlich realistischer), war die Furcht der Kirche, die naturgemäß unbeugsamen Siddarmarkianer könnten sich eines Tages weigern, sich einem Dekret der Kirche zu fügen. Sollte das jemals geschehen, würden die wohlausgebildeten, äußerst professionellen und sehr gut ausgestatteten Pikeniere der republikanischen Armee einen schrecklichen Gegner darstellen. Und im Gegensatz zu Charis wäre das ein Gegner, der im wahrsten Sinne des Wortes in der Nachbarschaft der Tempel-Lande selbst lebte.
Diese geistige Selbstständigkeit war auch einer der Gründe, weswegen Siddarmark traditionell enge Wirtschaftskontakte mit Charis pflegte. Die siddarmarkianische Händlerkaste war im gewählten Parlament des Volkes kräftig vertreten. Tatsächlich dominierten sie das Parlament sogar − gemeinsam mit der wohlhabenden Farmerkaste, nicht zuletzt wegen der strengen Eigentumsauflagen, die es zu erfüllen galt, um ein Stimmrecht erwerben zu können. Das Interesse der Händler daran, freundschaftliche Beziehungen mit Charis zu unterhalten, war unverkennbar, und trotz gewisser, aus der Tradition begründeter, Vorurteile Bankiers und Händlern allgemein gegenüber, war das Interesse der Farmer daran sogar noch ausgeprägter. Niemand in Siddarmark war in der Lage, gewisse Waren zu auch nur annähernd so günstigen Preisen anzubieten, wie die Charisianer das taten, und im Gegenzug stellte Charis für Siddarmark den größten Absatzmarkt für Rohbaumwolle, Seide, Tee, Tabak und Weizen dar. Es war eine lukrative Handelsbeziehung, die zu bewahren beide Nationen zahlreiche wirklich gute Gründe hatten.
All das erklärte, warum der Posten des charisianischen Botschafters der Republik deutlich leichter war, als die meisten Diplomaten sich zu erträumen wagten. Zumindest unter normaleren Umständen.
Doch die Umstände
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