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Die Flucht der Gauklerin: Historischer Roman (German Edition)

Die Flucht der Gauklerin: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Die Flucht der Gauklerin: Historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone Neumann
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noch immer die tote Ratte anstarrte.
    In diesem Moment streifte ein Luftzug zu ihnen herüber. Schon den ganzen Morgen lang war immer wieder ein leichter Wind aufgekommen, und diese kleine Böe nun kam direkt aus dem Dorf. Anders als im Wald, wo der Wind nach Moos oder auch nach Tannenzweigen gerochen hatte, war der Geruch dieses Windhauchs ein anderer. Er war ekelerregend. So widerlich, dass Regino zu husten begann und Johann sich die Hand vor die Nase hielt. Auch Marie wurde übel, dennoch begann sie gezielt in der Luft zu schnuppern. Dieser Gestank kam ihr vertraut vor.
    Sie zögerten eine Weile. Dann entschieden sie sich doch, das seltsam stille Dorf zu betreten, aus dem nach wie vor bloß der klägliche Klang der scheppernden Glocke zu vernehmen war. Johann war der Erste. Er löste den Riegel des Tores, indem er mit seiner Hand durch das Geflecht nach innen griff. Es war ein Kinderspiel. Dennoch fiel es ihnen schwer, den ersten Schritt hinein in den Ort zu machen. Irgendetwas stimmte hier nicht, und das hatte nichts mit der möglichen lauernden Gefahr durch Vitus Fips zu tun.
    Vorsichtig näherten sie sich dem ersten Hof. Die Türe zum Haus stand weit offen und schlug durch den nun stärker werdenden Wind leicht hin und her. Wieder war dieser üble Geruch wahrzunehmen. Johann pirschte wie ein Jäger nach vorn und warf einen mutigen Blick in das Gebäude, welches mehr einer großen Hütte glich. Dann wandte er sich wieder nach Marie und Regino um und schüttelte den Kopf.
    Niemand war da. Das Haus stand leer.
    So auch das nächste und übernächste.
    Im vierten fanden sie die Kadaver von fünf Katzen und einem Hund.
    Im fünften den angefressenen, toten Körper einer Ziege.
    Im sechsten lauter tote Ratten.
    Als sie schließlich in die Ställe schauten, mussten sie feststellen, dass das Vieh ebenfalls verendet und bereits von wilden Tieren oder den streunenden Hunden zerlegt worden war.
    » Ein Geisternest « , stöhnte Regino. Wieder war er vor Entsetzen grün im Gesicht. » Keine Überlebenden, außer… «
    Sie alle hatten es die ganze Zeit über bereits im Ohr. Bei all der Leere und dem Tod, dem sie hier begegneten, wussten sie, dass wenigstens ein Mensch in dem Dorf lebendig sein musste.
    » Lasst uns endlich nachsehen, wer es ist, der die Glocke läutet « , schlug Marie nun vor.
    Doch keiner von ihnen hatte große Lust, den Glöckner in näheren Augenschein zu nehmen. Denn einem jeden von ihnen gingen die verschiedensten düsteren Bilder durch den Kopf, als sie sich der baufälligen Holzkirche näherten, die regelrecht von dem unaufhörlichen Läuten zu vibrieren schien. Regino stellte sich vor, wie der Tod selbst mit seinen knochigen Fingern an dem Seile hing und leicht wie eine Fliege auf und ab gezogen wurde. Johann fürchtete einen Wiedergänger vorzufinden, einen aus dem Grabe aufgestiegenen Halbtoten, der sich in seiner dunklen Rache über das ganze Dorf hergemacht hatte, dessen Bewohner es gewagt hatten, ihn versehentlich lebendig zu begraben. Marie hatte Vitus Fips vor Augen, der hämisch grinsend dieses scheppernde, mittlerweile ohrenbetäubende Geräusch erzeugte, um seinen erfolgreichen Diebeszug über ein ganzes Dorf zu feiern. Ganz so, wie Maja es in ihren Visionen gesehen hatte.
    Bange betraten sie schließlich das Innere der Kirche.
    Es waren weniger das unerträgliche Scheppern der Glocke oder die Dunkelheit des kleinen Raumes, die sie zurückschrecken ließ. Nein, es war erneut der widerwärtige Gestank, der hier, an diesem geweihten Ort, so unerträglich war wie nie zuvor. Langsam gewöhnten sich ihre Augen an die Dunkelheit, und Marie, die kurz hinter dem Eingang stehen geblieben war, während die beiden Männer sich angewidert abgewandt hatten, erkannte als Erste die Quelle des fauligen, schwefelartigen Geruchs.
    Im Kirchraum lagen mindestens ein Dutzend Tote. Eingewickelt in Sackleinen und mit Hanfseilen verschnürt, konnte man nicht mehr viel von ihnen erkennen. Allein, man sah, dass sie in der Größe variierten, offenbar handelte es sich sowohl um Männer als auch um Frauen und Kinder. In einer Reihe waren sie platziert worden, hinter ihnen flackerte das schwache Licht einer einzigen Kerze, und auf der Brust eines jeden lagen ein kleines hölzernes Kreuz und eine blühende Blume. Ungeachtet des elenden Gestanks ging sie tiefer in den Raum hinein. Eine Leiter führte hinauf zum Kirchturm, und unter der Leiter hockte… ein Kind.
    Marie beschleunigte ihre Schritte und ging auf das

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