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Die Flucht der Gauklerin: Historischer Roman (German Edition)

Die Flucht der Gauklerin: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Die Flucht der Gauklerin: Historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone Neumann
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der Türe des winzigen, verschlagartigen Kirchenanbaus stehen geblieben, doch er hatte sie längst entdeckt und erkannt. Sein einziges, angeschwollenes Auge war auf sie gerichtet. Und trotz seines mehr als erbärmlichen Zustandes lachte er.
    Marie war diese Situation vertraut. Schon einmal war er dem Tode näher gewesen als dem Leben und hatte dennoch lachen können. Hämisch, überheblich und vollkommen angstfrei.
    Fürchtete er sich gar nicht vor den Höllenqualen, die gewiss auf einen Menschen wie ihn warten würden?
    Dachte er nicht an die Strafe des Himmels, die ihn nach einem solch schändlichen Leben ereilen würde?
    Hatte er nicht einmal Respekt vor dem eigenen Tod?
    Hielt er sich gar für unsterblich?
    Oder war er der Teufel selbst, der sich nicht vor einer Rückkehr in die flammende Unterwelt fürchten musste?
    Marie zitterte. Es war ihr mehr als widerwärtig, diesem Menschen wieder so nah sein zu müssen und ihm in den nächsten Augenblicken noch näher zu kommen.
    Doch es musste sein.
    » Marie « , krächzte er nun mit heiserer, kaum hörbarer Stimme. » Komm zu mir. «
    Er streckte eine seiner verkrüppelten, zitternden Hände nach ihr aus. Der Gestank in diesem winzigen, fensterlosen Raum war unerträglich. Überall wimmelte es von Ratten, toten, halbtoten und lebendigen. Unter größter Überwindung bahnte Marie sich nun den Weg zu seinem Lager. Sie würde seinem Wunsch entsprechen und zu ihm kommen. Ein letztes Mal.
    » Du bist sehr krank, Vitus « , sagte sie mit bebender Stimme.
    » Ich weiß. «
    » Du wirst sterben. «
    » Setz dich. «
    Marie ließ sich neben ihm auf dem Dielenboden nieder, eine schwarz-weiß gescheckte Ratte kam zu ihr und schnupperte an ihren Füßen. Marie gab ihr einen unsanften Stoß.
    » Na, na « , vernahm sie Fips’ tadelnde Stimme.
    » Wieso verfolgst du mich? « , fragte sie nun.
    » Weil du mich brauchst. «
    » Das stimmt nicht. «
    » Oh doch. Warum sonst bist du hier? «
    » Ich bin nicht deinetwegen gekommen. Ich will die Karte. «
    » Dieses Mädchen ist durch meine Schule gegangen « , sagte Fips anerkennend.
    » Ich will die Karte « , wiederholte Marie.
    » Dann nimm sie dir. «
    Marie schluckte und blickte einen Moment lang zur Decke. Dann nahm sie all ihren Mut zusammen und flocht die Bänder seines stinkenden Wamses auf.
    » Das hast du schon lange nicht mehr getan. «
    Er schnappte nach ihrer Hand. Marie hätte ihm so viel Kraft und Schnelligkeit gar nicht mehr zugetraut. Ehe sie sich versah, hatte er ihre Finger zu seinem Mund geführt und lutschte nun genüsslich daran. Sie schrie auf und befreite ihre Hand, die nun voll zähem, jauchigem Speichel war.
    » Es gefällt dir. Gib es zu « , sagte er. » Du brauchst das. Du brauchst mich. Und du wirst mich haben, das verspreche ichdir. «
    » Niemals. «
    Ebenso rasch wie Fips’ Hand zuvor war nun Maries rechte Hand an seiner Gurgel, während die linke damit fortfuhr, das Wams zu öffnen. Ein eitriger Ausfluss kam ihr entgegen, als das enge Kleidungsstück sich endlich löste. Dennoch griff Marie beherzt zu und fand, wonach sie gesucht hatte. Das musste sie sein, die Karte.
    Flink stand sie auf und eilte in die äußerste Ecke des Raumes, während Fips röchelnd und die Augen verdrehend dalag. Marie wollte sichergehen, das richtige Schriftstück in Händen zu halten. Sie faltete es auf. Es war von den stinkenden Ausdünstungen und Ausflüssen des Kranken durchtränkt, aber dennoch konnte man sehr gut eine Zeichnung darauf erkennen, die offensichtlich den Weg zu der verheißungsvollen Goldgrube im Altvatergebirge darstellte. Marie wischte die Karte und auch ihre Hände an der Schürze ab und steckte das Pergament dann unter ihren Rock.
    Fips war mittlerweile blau angelaufen. Er schien diesen letzten Kampf nicht gut vertragen zu haben, vergeblich rang er nach Luft.
    Unschlüssig beobachtete Marie ihn eine Weile. Sie hatte nicht vor, erneut Hand an diesen Widerling zu legen. Vielmehr wollte sie abwarten, bis er seine letzte Zuckung getan hatte. Es fiel ihr schwer, es behagte ihr nicht, Zeugin seines Ablebens zu sein, doch ihr blieb keine Wahl. Nur so konnte sie sichergehen, dass er nicht zurückkehren würde.
    Doch dann hörte sie, dass sich Schritte näherten. Es war der Pfarrer. Er kam, um nach dem sterbenden Pestkranken zu sehen.
    » Ihr seid hier? « , fragte er bloß, während er mit einem Kienspan und einem Weihrauchgefäß in der Hand die Sakristei betrat. Sofort verbreitete sich der angenehme Duft des

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