Die Flucht der Gauklerin: Historischer Roman (German Edition)
kleine Wesen zu. Zunächst blickte es sie verschreckt und verängstigt an, dann begann sich auf dem kleinen, verrotzten Gesichtchen ein Lächeln auszubreiten. Es war ein Bub von etwa zwei oder drei Jahren, und er streckte nun seine Ärmchen nach Marie aus, die nicht anders konnte, als das verlassene kleine Menschlein auf den Arm zu nehmen und an sich zu drücken.
Im selben Augenblick hörte die Glocke auf zu läuten. Auf dem knarrenden, morschen Boden des Kirchturms waren Schritte zu hören, und bald schon konnte Marie erkennen, wie jemand die Leiter hinunterstieg. Ganz langsam, ohne Hast.
Regino und Johann waren nun auch zur Stelle und warteten gespannt auf den offenbar einzigen überlebenden Erwachsenen in diesem Ort.
Zu ihrer Erleichterung erkannten sie in ihm den Pfarrer.
Ein noch sehr junger Mann mit jedoch schon lichtem Haar. Sein Gesicht war blass, seine Augen rot unterlaufen und von schwarzen Ringen umkränzt, er war nur mehr Haut und Knochen. Dennoch lächelte er, als er die Fremden in seinem Gotteshaus erblickte, und begrüßte sie freundlich.
» Der Tod kam plötzlich « , erzählte der Geistliche, als sie sich zusammen mit dem kleinen Jakob– so hieß das Kind– vor der Kirche auf einer Bank niederließen. » Innerhalb von drei Tagen waren nahezu alle Menschen in diesem Ort erkrankt, drei weitere Tage später fast ein jeder gestorben. Wir wissen nicht, womit wir so sehr den Zorn des Herrn auf uns gezogen haben, dass er einen jeden, bis auf dieses Kind hier, zu sich genommen hat. Es begann damit, dass zwei Fremde ins Dorf kamen. Ein Mann und eine Frau. Die Frau war bereits schwer krank. Sie fanden Obdach beim Bauern Grünspan, sagten ihm, sie seien Freunde seines Sohnes August und interessiert an den bunten Ratten, die es in diesem Dorf geben soll. Die Frau starb noch in der ersten Nacht nach ihrer Ankunft, und auch der Mann erkrankte. Man pflegte ihn. Doch dann wurden sowohl Mensch als auch Tier im Hause Grünspan ebenfalls matt und fiebrig. Sie starben. Und der Tod griff weiter um sich. Es ging so schnell, dass nicht einmal die Möglichkeit bestand, die Leichen zu begraben. Niemand hatte mehr die Kraft dazu, selbst ich fühlte mich schwach und lag zwei Tage im Fieberwahn. Erst gestern, als ich aus diesem Zustand erwachte und mich aufraffte, um nach meiner Gemeinde zu sehen, musste ich feststellen, dass niemand mehr am Leben war. Sie lagen in ihren Betten, manche saßen auf ihren Hockern am Tisch, andere fand ich auf der Straße oder im Stall. Der Tod hatte sie ereilt, wo sie sich gerade aufhielten, und er sparte niemanden aus, bis auf Klein Jakob, den ich wimmernd in einem leeren Schweinetrog entdeckte. Jakob ist der einzige Gesunde. Auch ich spüre die Seuche in mir, und der Fremde, welcher einer der Ersten war, die davon befallen wurden, leidet ebenfalls noch an ihr. Der Tod ist nicht gnädig mit ihm. Er nagt an ihm, will ihn aber noch nicht endgültig ereilen. Ich habe ihn in die Sakristei gebracht, dort hingebettet und ihm bereits die Letzte Ölung zuteil werden lassen. Jetzt werde ich noch einmal nach ihm sehen, denn ich fürchte, sein Zustand lässt es nicht zu, dass er eine weitere Nacht übersteht. «
Damit erhob sich der Pfarrer und blickte verzweifelt gen Himmel. Nach einem kurzen Moment des Schweigens wandte er sich wieder an die wie versteinert dahockenden Leute:
» Ich kann verstehen, meine Brüder und meine Schwester, wenn ihr es unter diesen Umständen vorzieht, so rasch als möglich von diesem traurigen Ort zu verschwinden. Dennoch wäre ich euch zu großem Dank verpflichtet, wenn ihr mir helfen könntet, die Gräber auszuheben. «
» Ja « , sagte Johann sofort und stand auf. Auch der erneut grüne Regino nickte mit vollkommen abwesendem Blick. Dennoch gewann man den Eindruck, dass er dem Pfarrer gar nicht mehr zuhörte. Marie saß stumm da, presste das mittlerweile schlafende Kind, so fest es ging, an ihren Körper und streichelte seinen rotblonden Schopf.
Als Johann mit dem Pfarrer verschwunden war, um in den Häusern der Toten nach Schaufeln zu suchen, reichte Marie dem sprachlosen Regino das Kind und sagte matt: » Ich gehe jetzt in die Sakristei und werde die Sache zu Ende bringen. «
» Sie ist tot, und ich bin schuld daran « , murmelte Regino bloß mit trübem Blick. Er hatte Maries Worte gar nicht verstanden.
» Ich gehe jetzt, Regino « , wiederholte Marie und machte sich sodann auf den Weg zurück in die dunkle Kirche.
Da lag er.
Elend sah er aus.
Sie war in
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