Die Flucht der Gauklerin: Historischer Roman (German Edition)
Herrgott hatte ihm diese Frau gesandt.
Der Überzeugung war der Bauer Ulrich Filzhut bereits am Tage ihres plötzlichen Erscheinens in seiner bescheidenen Heimstatt gewesen. Und dieser Überzeugung war er auch noch ein Jahr später, obwohl die übrigen Männer und auch die Weiber aus dem Dorf es anders sahen. Und mit dieser ihrer Meinung hielten sie nicht hinterm Berg, raunten Ulrich auf den schmalen Feldwegen, sobald er ihnen mit seinem Karren entgegenkam, Ermahnungen zu, warnten ihn nach einem jeden Kirchgang oder redeten eindringlich auf ihn ein, wenn er– was selten der Fall war– den Dorfkrug aufsuchte.
Eine Undurchschaubare sei sie, eine Fremde, eine Verteufelte gar, viel zu schön für einen alternden, gebeutelten Mann wie ihn. Ob er sich nie frage, woher sie stamme? Ob er sich nie frage, was sie ausgerechnet auf seinen erbärmlichen Hof getrieben habe? Ob er sich nie frage, was ihr eigentliches Ansinnen sei? So oder ähnlich waren ihre Worte.
Ja, die zweite Frau des Bauern Filzhut war wahrlich kein gewöhnliches Weib, und sie gab sich auch nur wenig Mühe, ihren zweifelhaften Leumund zu verbessern. Zwar benahm sie sich sittsam und war fleißig, aber im Gegensatz zu den anderen Frauen des Dorfes und seiner Umgebung legte sie keinen Wert darauf zu reden. Sie sprach mit kaum jemandem. Wäre sie stumm gewesen, so hätte man ihre Verschwiegenheit verstehen können. Doch sie war nicht stumm, sie konnte sprechen und tat es auch, wenn es um das Nötigste ging. Doch darüber hinaus sagte sie nichts. Kein Wort.
War ihr Verhalten den Menschen im Dorf unheimlich, so erkannte Ulrich in ihrer Zurückhaltung einen Segen. Er liebte sie, hielt sie für einen Engel, eine Himmelsbotin, die ihm niemand anders als seine verstorbene Elsa im Auftrag der Mutter Gottes auf die Erde geschickt hatte, um für ihn, den Witwer, und seine drei Kinder zu sorgen. Und sie sorgte in der Tat gut für sie, war emsig, sauber und sich keiner Arbeit zu schade. Sie kümmerte sich rührend um die Kinder, um das Haus, den Garten, den Stall und das Vieh. Sie kümmerte sich auch um Ulrich, verweigerte sich ihm niemals, war immerzu gütig, lauschte seinem Kummer, seinen Sorgen und betete mit ihm. Nichts, aber auch rein gar nichts gab es an diesem Weib zu beanstanden. Es sei denn, man war interessiert an ihrer Vergangenheit und ihrer Herkunft, über welche sie entschieden den Umhang des ihr eigenen Schweigens hüllte.
Keine sieben Tage hatte Elsa unter der Erde geruht, da war Marie plötzlich aufgetaucht. Elsa hatte lange gelitten, nicht mehr arbeiten können, war rasch dünner und dünner geworden, bis schließlich nur noch ein hohläugiges, mit fahler Haut überzogenes Gerippe in dem kleinen Bett des Bauernhäuschens gelegen hatte. Für alle war es eine Erlösung gewesen, dass Gott sich schließlich ihrer erbarmte und sie zu sich nahm. Dennoch war die Trauer groß und Ulrich noch ganz blass und benommen, als es eines Abends leise an seine Kate geklopft hatte.
Spät war es gewesen, starker Regen war gefallen. Ulrich hatte geglaubt, der Pfarrer erbitte Einlass, um wegen der Seelenmessen anzufragen, von denen sich der arme Bauer lediglich eine einzige würde leisten können. Doch nicht der fettleibige Pfarrer hatte vor der Tür im Regen gestanden, sondern eine durchnässte, zitternde, blutende Frau. Eingehüllt in einen grauen Wollmantel, hatte sie Ulrich aus großen Augen flehentlich angeblickt und war dann auf der Schwelle zusammengebrochen. Er hatte sie aufgehoben und auf sein Lager gebettet, und nachdem sie am folgenden Morgen erwacht war, blieb sie. Sie blieb bei Ulrich und seinen Kindern. Man zahlte dem Grundherrn den Stechgroschen, galt somit als verheiratet und lebte seither in Zufriedenheit beisammen.
Ja, Ulrich fühlte sich zeitweise sogar glücklich in diesem neuen Leben.
Nicht so Marie.
Doch darüber sprach sie nicht.
» Du kannst mich nicht verlassen! Ich werde dich finden! «
Von diesen Worten erwachte sie in nahezu jeder dritten Nacht, wenn sie neben ihrem treuen Ulrich in dessen engem Bettkasten ruhte. Ein Albtraum war es, wiederkehrend und zukunftsweisend, denn Marie glaubte fest daran, dass diese Drohung sich eines Tages erfüllen würde. Dann nämlich, wenn er, der ihr so deutlich in diesem Traume erschien, leibhaftig vor ihr stünde.
Er, der bei ihr gewesen war, seitdem sie hatte denken können. Ihr Ziehvater, ihr Begleiter, ihr eigentlicher Gatte. Mit nur zwei Jahren war sie von ihrer Mutter für ein Stück Speck, ein Ei
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