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Die Flucht der Gauklerin: Historischer Roman (German Edition)

Die Flucht der Gauklerin: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Die Flucht der Gauklerin: Historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone Neumann
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und einen schmutzigen Taler an ihn verkauft worden. Damals in Köln, zu Füßen des unfertigen Domes, war dies gewesen, als die Mutter sich zusätzlich rücklings in eine Nische des Gotteshauses zwängte und er seinen entblößten Unterleib stoßweise an ihr Hinterteil drückte. Danach hatte er das im Dreck sitzende Kind gegriffen und es mit sich genommen. Marie war bei ihm groß geworden, hatte von ihm einiges gelernt: Seiltanz, Singen, Handlesen, Lügen, Stehlen und sich aus dem Staube machen– auf all das verstand sie sich bereits mit fünf Jahren bestens. In den entferntesten Gegenden kamen sie herum, zu Fuß meist, mitunter auf einem gestohlenen Wagen. Oft wurden sie bespuckt, verjagt, verfolgt, litten unter Hunger, Durst und Kälte, aber dennoch blieben sie am Leben, obwohl Marie sich bereits als Kind häufig gewünscht hatte, sterben zu dürfen.
    Doch wirklich schrecklich war es erst geworden, als ihre Brüste zu wachsen begannen und die monatlichen Blutungen einsetzten. An jenem Tage veranstaltete er ein Freudenfest für sie beide, er schmückte Marie mit Blumen, kaufte ein ganzes gebratenes Huhn und ließ es sie allein essen. Nicht einmal mit seinen geliebten zahmen Ratten, die ihm sonst wichtiger waren als jedes menschliche Wesen, hatte sie teilen müssen. In der Nacht dann wurde sie erstmals zu seiner Geliebten. Und blieb es dreizehn schreckliche Jahre lang.
    Sie hörte in diesen Jahren auf zu zählen, wie oft er mit ihr zu zwielichtigen Hebammen, alten Zigeunerinnen und anderen Engelmacherinnen ging– je nachdem, wo sie sich gerade befanden, ob auf dem Lande oder in der Stadt–, nein, sie zählte nicht mehr, verdrängte die Schmerzen, die Demütigungen, stumpfte ab und fügte sich.
    Dann– sie hatte bereits ihr fünfundzwanzigstes Jahr erreicht– wurde sie uninteressant für ihn. Sie genügte ihm nicht mehr, und er kaufte sich in einem kleinen Dorf bei einer armen Tagelöhnerfamilie ein neues Mädchen. Doch dieses Kind überlebte keine Woche in seiner Gesellschaft, es war nicht so stark, so robust, so stumpf wie Marie. Es starb in Maries Armen, nachdem er es gegen sechs Eier eine ganze Nacht lang an eine im Wald lebende Horde von ausgehungerten Aschenbrennern verliehen hatte.
    Mit dem Tod dieses unschuldigen Mädchens sollte sich auch für Marie plötzlich alles ändern. In dem Moment, als sie den leblosen, geschändeten Körper zu Boden gleiten ließ, übermannte es sie– das Leben kehrte mit all seiner Wut und Verzweiflung in ihren ebenfalls geschändeten, aber noch nicht gänzlich toten Leib zurück. Rasend stürmte Marie auf den in der Sonne Schlummernden zu, riss das Messer an sich, welches in seinem Gürtel steckte, und stach blind auf ihn ein. Sie traf ihn überall, sie zerschnitt ihm die Haut im Gesicht, zog die Klinge durch sein rechtes Auge, sie rammte sie in seine Schulter, in seinen Rücken, stach ihn in Arme und Beine. Sie schrie dabei. Und als ihr das Messer aus den blutigen Händen glitt, schlug sie mit den Fäusten auf ihn ein. Erst als sie nicht mehr konnte, als sie völlig außer Atem war, als ihr fast schwindelig und übel vor Erschöpfung wurde, erst da ließ sie von ihm ab.
    Doch er war nicht tot. Er lebte, lachte sogar noch, lachte sie an.
    Marie meinte damals zum ersten Male in ihm den leibhaftigen Teufel zu erkennen. Ohne den Blick von der unberechenbaren Gestalt abzuwenden, griff sie erneut nach dem am Boden liegenden Messer. Sie war plötzlich ganz ruhig geworden, der Zorn war verraucht, Trauer und Müdigkeit hatten sich ihrer bemächtigt. Dennoch musste es sein. Sie würde diese Sache nun zu einem Ende führen müssen, sonst würde er ihr seinerseits ein Ende bereiten.
    Als sie aber zum finalen Streich ausholte, ein letztes Mal zustechen wollte, da konnte sie nicht. Es war ihr nicht mehr möglich, es widerte sie an, ihn, den Wehrlosen, den Verletzten, aber nach wie vor so Mächtigen wieder berühren zu müssen. Entsetzt ließ sie das Messer fallen und taumelte davon.
    Er aber raffte sich auf, blickte ihr aus dem verbliebenen Auge in seinem entsetzlich entstellten, blutüberströmten Gesicht nach und rief:
    » Du kannst mich nicht verlassen! Ich werde dich finden! Das verspreche ich dir. Du gehörst mir. «
    Ein ganzes Jahr war seither vergangen. Marie war damals bis tief in die Nacht hinein um ihr Leben gelaufen, hatte zahlreiche Meilen hinter sich gebracht, und auch am folgenden Tage war sie unermüdlich weitergehastet. Erst am zweiten Abend gönnte sie sich Ruhe. Sie war

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