Die Flucht der Gauklerin: Historischer Roman (German Edition)
mehr tot als lebendig, als sie auf die nächstbeste Hütte in einem fremden Dorf zusteuerte und mit letzter Kraft an die Türe des Bauern Ulrich Filzhut schlug.
Und obgleich es Marie von da an besser erging als je zuvor in ihrem Leben, blieb dennoch die Angst. Die Zeit strich ins Land. Genügend Zeit für ihn, um zu genesen, um seine berüchtigte Rachsucht reifen zu lassen, um Nachforschungen anzustellen. Marie kannte ihn nur zu gut. Sie wusste, wie zäh, wie unnachgiebig er war. Er würde seine Drohung wahrmachen, er suchte sie längst. Und bald, da war sich Marie sicher, würde er sie finden. Von da an wäre ihr ruhiges und warmes Leben in der Hütte des Bauern Ulrich, umringt von dessen lebhaften Kindern, vorbei. Dann müsste sie wieder aufbrechen, wieder gehen, weiter und weiter durch die Fremde ziehen.
Aber wenn Marie ganz ehrlich zu sich war, dann war es genau das, was sie sich tief in ihrem Inneren wünschte. Sie wollte weiter, sie wollte fort von diesem sesshaften Leben, sie wollte wieder in die Ferne. Denn so wie in einem jeden Menschen, der den Großteil seines Lebens wandernd, pilgernd oder umherstreifend verbracht hatte, wohnte auch in ihr eine Unrast, die in manch behaglicher, inniger Stunde im Kreise der Familie Filzhut zu einer brennenden Qual werden konnte. Marie verabscheute dieses Gefühl. Sie hätte alles gegeben, um es abzutöten, doch das gelang ihr nicht. Immer wieder flammte sie auf, die Rastlosigkeit, zog wie tausend Nadelstiche durch sämtliche Glieder ihres Körpers und ließ Marie unvermittelt aufstehen und aus der Hütte rennen, nur um bald wieder zurückzukehren. Sie brachte es nicht übers Herz, den Witwer Ulrich und dessen Kinder zu verlassen. Auf ihre Weise liebte sie diese kleine Welt, in der sie Schutz und Geborgenheit gefunden hatte.
Ein verstecktes Dörfchen war es, ruhig und beschaulich. Am Fuße einer trutzigen Burg gelegen, war es eingeschlossen von fruchtbaren Hügeln, und bei gutem Wetter konnte man in der Ferne die Türme des reichen Klosters Marienmünster in der Sonne glänzen sehen.
Leider aber war dieses friedliche, besinnliche Bild, welches Marie sich so gern machte, nichts weiter als ein Trugbild, denn bereits seit Jahren herrschte alles andere als gutes Wetter. Die Sonne schien kaum, und die Türme des Klosters waren selbst im Sommer meist von einem grauen Regenschleier verhangen. Darum konnte man auch die Hügel mit ihren Feldern nicht mehr fruchtbar nennen, da das Korn verfaulte, falls es, nach dem bis in den Mai hineinreichenden Frost, überhaupt je gewachsen war. Im letzten Jahr hatte man von einer misslichen Lage gesprochen, in diesem Jahr, dem Jahre 1347, war bereits von einer drohenden, unausweichlichen Hungersnot die Rede.
Auf die Hilfe des Grundherrn, das wussten die Bauern, war nicht zu hoffen. Denn die Herren kamen und gingen. Waren es in einem Jahr zwei Ritterbrüder gewesen, die über sie herrschten, so wurden diese im nächsten durch die Ministerialen einer entfernten Adelsfamilie ersetzt, dann wieder sahen sich die nahen Benediktiner zuständig für das Einholen der Abgaben, und danach kam mit einem Mal wieder ein Burgherr aus dem Nichts zurück. Die Lehen wurden hin- und hergegeben, man befehdete sich, vertrug sich wieder, Rechte und Pflichten wurden verschachert, verliehen, verschenkt, und mit ihnen die daranhängenden Bauern. Diesen war es recht gewesen, solange sie von Brandschatzungen und Plünderungen durch Fehden verschont blieben und es ihnen gelang, mit den neuen Herren auch bessere Bedingungen auszuhandeln. So waren im Laufe der Zeit die Frondienste entfallen und die schwankenden Naturalabgaben in einen festen Pachtzins umgewandelt worden, den die Bauern in Form von Geld zu entrichten hatten. Das waren goldene Zeiten gewesen. Doch diese hatten sich bald wieder gewandelt.
Schuld daran trugen einerseits die wiederholt auftretenden, wetterbedingten Missernten der letzten zwanzig Jahre, und die Schuld daran trug auch– so hatte es der Dorfpfarrer mahnend von der Kanzel gepredigt–, dass, trotz wachsender Armut, die Leute keine Hemmungen kannten, sich schier grenzenlos zu vermehren. Und damit hatte er recht: Die Zahl der Menschen in Dörfern und Städten wuchs rasch, während andererseits das Essen immer knapper wurde. Da deshalb auch den Edlen langsam die Not ins Haus stand, verfielen sie bald darauf, Altes, längst Vergangenes wieder einzuführen: Der Frondienst kam zurück, und auch Naturalabgaben wurden wieder erhoben, ohne dass jedoch
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