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Die Flucht: Roman (German Edition)

Die Flucht: Roman (German Edition)

Titel: Die Flucht: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jesus Carrasco
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ausgewichen? Was für ein Mensch würde sich mit einer derart geringen Vorstellungsgabe an einem Ort wie diesem niederlassen? Nach dem Zustand der Konstruktion zu urteilen, kam seine Lösung viele Jahre zu spät, und wer hätte schon einen Jungen nach den Maßen einer Mühle befragt?
    Seine am Gaumen klebende Zunge rief ihn in die Wirklichkeit zurück. Die Suche nach Wasser hatte ihn hergeführt. Am Fuße der Stelle, an der der Metallturm gestanden haben musste, wucherte das wilde Gestrüpp eines toten Feigenbaums zwischen den Streben eines Eisengitters hervor. Aufgrund der üppig ineinander verfilzten Zweige schloss er, dass es früher einmal reichlich Wasser unterhalb der Wurzeln gegeben haben musste. Derbe Ranken, die wulstig durch die Löcher des Gitterwerks hervorquollen und miteinander verwuchsen. Zentimeter für Zentimeter inspizierte er das Gestrüpp, bis er auf einen Spalt zwischen den Eisenstreben stieß, den die Ranken noch nicht besiedelt hatten. Er versuchte, durch das Loch zu spähen, konnte jedoch im Dunkel auf der anderen Seite nichts erkennen. Aus der Öffnung schlugihm ein frischer, feuchter Luftzug entgegen. Hatte der Hirte ihn vielleicht hierherlenken wollen, als er ihm die Blechbüchse überließ? Er dachte, vielleicht habe er trotz allem Glück gehabt.
    Er suchte nach einem Kieselstein, der durch das Loch passte, und ließ ihn fallen. Es dauerte nicht lange, bis der Stein auf dem Grund aufschlug, doch der Junge, versunken in einem Traum vom Rauschen frischen, klaren Wassers, bemerkte es erst lange, nachdem der Stein aufgeprallt war. Er warf noch ein Steinchen, und diesmal blieb er mit allen fünf Sinnen bei der Sache und wartete ab. Vom Grund ertönte ein dumpfer Schlag. Kein Platschen oder aufspritzendes Wasser als Anzeichen für einen vollen Brunnen. Auch kein Steineklirren, weshalb er folgerte, dass sich am Grund des Schachts bestenfalls noch ein breiiger Morast befand, Überbleibsel eines versickernden unterirdischen Wasserlaufs.
    Ermattet kehrte er zur Palme zurück. Der Schatten der hohen Krone fiel nicht mehr auf das Hemd. Das von der Käseschwarte ausgeschwitzte Fett bildete auf dem Stoff einen Fleck, der an den Rändern auslief wie ein Korallenriff. Die Blechbüchse glühte, und nur die Trockenfleischstreifen schienen durch die erbarmungslose Hitze keinen Schaden genommen zu haben. Er verstaute die Lebensmittel in seinem Proviantsack, zog sich das Hemd über und machte sich bereit, im spärlichen Schatten auszuharren, bis der Nachmittag etwas Linderung brachte.
    Die Stunden verstrichen schleppend, und wenngleich er hungrig war, rührte er seine Vorräte nicht an, wohlwissend, dass er vom Essen noch mehr Durst bekommen würde. Immer wieder kam ihm die Regentonne daheim in den Sinn. Darin fingen sie das Regenwasser auf, das sich an Tagen, an denen ein paar Tropfen vom Himmel fielen, auf dem Dach sammelte. Obwohl es schon seit Monaten nicht mehr geregnet hatte, war die Tonne immer voll. Seine Mutter hatte es auf sich genommen, mit einem Tonkrug zum Brunnen auf dem Dorfplatz zu gehen, damit der Wasserspiegel nie unter die Markierung im Inneren der Tonne sank. Das war eine Anordnung des Vaters. Sie lief zum Platz und schritt die Reihe der Krüge ab, die die Frauen dort so lange stehen ließen, bis sie dran waren. Dann stellte sie ihren Krug hinten an und ging heim, um mit der Hausarbeit fortzufahren. In regelmäßigen Abständen kehrte sie zum Krug zurück und schob ihn in dem Maße, wie die anderen vor ihm gefüllt und weggetragen worden waren, weiter nach vorne. Und obwohl fast alle Krüge den Händen ein und desselben Töpfers entstammten, wusste jede ganz genau, wem welcher Krug gehörte. Wenn die Frauen sich auf den Gassen begegneten, tuschelten sie miteinander, um zu erfahren, wie weit die Schlange vorgerückt war oder ob das Wasser in den letzten Stunden wieder ergiebiger aus dem Brunnenrohr floss. Im Sommer wurde der ohnehin schon spärliche Wasserstrahl noch dünner, bis nur noch ein jämmerliches, trostloses Rinnsal zustande kam. Selbst dann ging die Mutter zum Brunnen, wenn der Wasserspiegel in der Tonne um mehr als das geduldete Maß sank. Der Junge dachte daran, wie der Vater eines frühen Abends ins Zimmer hereingeplatzt war und sie am Ellenbogen nachdraußen gezerrt hatte. Dort hatte er sie unwirsch zur Tonne geschoben und sein Messer gezückt. Die Mutter hatte den Mund aufgesperrt und ihn gleich in den Falten ihres schwarzen Kopftuchs verborgen. Der Vater hatte die Spitze der

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