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Die Flucht: Roman (German Edition)

Die Flucht: Roman (German Edition)

Titel: Die Flucht: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jesus Carrasco
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herabhängenden Muskelfasern. Da ist kein Schmerz, in keinem Moment, alles konzentriertsich auf das Warten, wütend oder geduldig, dass die Bisse die Nervenbahnen erreichen. Ob der Tod durch einen infizierten Biss oder einen zerfleischten Magen erfolgt, ist kaum noch von Belang. Es zählt allein die Unfähigkeit, den Körper aufzurichten und selbst mit halb abgefressenen Händen die Orgie der Hunde und Mikroben zu unterbrechen. Etwas klatscht ihm ins Gesicht. Eine Hand, vielleicht. Dann ein Schlag. Derjenige, der in seinem Schädel gefangen ist, sträubt sich, doch inmitten des inneren Erdbebens setzt er unwillentlich einen verborgenen Mechanismus in Gang, der erreicht, dass der Junge die Augen aufschlägt. Das Gesicht des Ziegenhirten schiebt sich eine Handbreit über seinem vor die Sonne wie der Mond bei einer Sonnenfinsternis.
    »Junge! Junge! Wach auf!«
    Der Hund leckte ihm die Hand mit der gleichen rauhen Feuchtigkeit, die ihm zuvor Gesicht und Zahnfleisch überzogen hatte. Der säuerliche Atem des Alten brannte in den eben geöffneten Augen. Er stammelte ein paar Worte, während sein Blick die Stirn des Alten ergründete, bis er auf einem talgigen Pickel haften blieb, der wie ein Grenzstein mitten zwischen beiden Brauen saß. Auf der Stirn des Alten drängten sich die Schweißperlen, von denen ihm einige auf die Nase tropften und wie goldene Tränen über die Haut rannen. Der Alte trat ein paar Meter zurück und kramte nach etwas in einem der beiden Körbe, mit denen der Esel beladen war. Dann kehrte er zu dem Jungen zurück und kniete sich mit einer Blechbüchse in der Hand vor ihn hin. Er brauchte ihm denMund gar nicht zu öffnen, da die Sonne seine Haut derart gestrafft hatte, dass der Mund aussah wie ein Schlitz aus gegerbtem Leder. Zum Zerreißen gespannt. Der Hirte setzte ihm den Büchsenrand behutsam an die Mundwinkel, um ihm die Flüssigkeit einzuflößen, doch als der neugierig herumstreunende Hund ihn für einen Moment ablenkte, schnellte das Gefäß hoch und ein ganzer Schwall ergoss sich in die Kehle des Jungen. Der verschluckte sich und richtete sich verwirrt auf. Sein abwesender Blick hatte sich irgendwo in seinem Alptraum verfangen, und einen Moment lang wirkte er nicht wie ein menschliches Wesen. Der Hirte zog das Gefäß zurück und wich zur Seite, als fürchtete er eine drohende Explosion. Das Abendlicht färbte die Konturen der Gegenstände rötlich und ließ sie unwirklich erscheinen. Der Junge stieß einen die Luft zerschneidenden Schrei aus, als tauche er aus dem Tunnel auf, der das Leben mit dem Tod verbindet. Der Alte wurde Zeuge dieses Klagelauts, und zum Glück war er der Einzige, der diesen herzzerreißenden Hilfeschrei in der Einöde hörte.
    Schluck um Schluck flößte der Alte ihm Flüssigkeit ein, erkundete zwischendurch die Umgebung und kehrte, als schon der Morgen nahte, mit einem Bund Kräuter und einer Honigwabe von seinem Streifzug zurück. Er errichtete mit ein paar Steinbrocken eine Kochstelle und entfachte ein Feuer. In die schwarz verbrannte Pfanne gab er etwas Öl und ließ Wegerich und Ringelblumenblätter darin schmoren. Ein seltsamer Duft gesellte sich zu dem Gemisch aus Tierausdünstungen und Aromendes nächtlichen Ödlands. Vertrocknete Erde. Erinnerungen des gefangenen Feigenbaums. Ziegendung und Urin, herber Käse und hier und da dampfender Eselsfladen, feuchtwarmer Gestank nur wenige Meter entfernt. Über dem heißen Blätteraufguss zerbröselte der Alte Bienenwachsstücke und bestrich, nachdem er alles gut vermischt hatte, schmutzige Stoffstreifen mit dem Gebräu. Der Junge lag unter der Palme und ließ den Alten, teils aus Schwäche, teils aus Bedürftigkeit, klaglos seinen Kopf mit den Umschlägen verbinden.
    Nachdem der Mann ihn versorgt hatte, breitete er ein paar Schritte weiter seine Decke aus und bedeutete dem Jungen, sich dort hinzulegen. Dieser stand auf und gehorchte schwankend wie ein Schilfrohr, auf dessen Spitze sich eine wohlgenährte Drossel niedergelassen hat. Der Alte hatte ihm den Packsattel aus Roggenstroh als Kopfkissen hingelegt. Behutsam bettete der Junge seinen Kopf darauf und machte es sich so gut es ging auf der kratzenden Wolldecke bequem. Von dort aus wanderte er mit dem Blick die gesamte Milchstraße entlang, von einem Ende zum anderen, während er hörte, wie der Alte geschäftig hin- und herlief und die Ziegen sich in der Nähe herumtrieben. Der helle Streifen, leuchtend und friedlich. Er ortete die Sternzeichen, die er am besten

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