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Die Flucht: Roman (German Edition)

Die Flucht: Roman (German Edition)

Titel: Die Flucht: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jesus Carrasco
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zusah, wie dieser die Halme, die er am Nachmittag geschnitten hatte, zu Seilen flocht, nickte er ein. So hatte er keine Gelegenheit, den fernen Hufschlag zu vernehmen, der die düstere Ebene durchschnitt. Er sah nicht, wie demHirten die Hände zitterten, aufgeschreckt vom plötzlichen Donnergrollen, das das Ödland wie mit einer Felsenklinge durchschnitt. Er spürte nur, wie die Stiefelspitze des Alten sich in seine Rippen bohrte und eine Stimme ihm befahl aufzustehen.
    Er richtete sich auf in dem Glauben, es sei kurz vor Tagesanbruch und der Hirte habe das Frühstück bereitet. Als er sich nach der Tasse umschaute, lag da nur die Decke am Boden, auf der er geschlafen hatte. Die übrigen Gerätschaften, einschließlich der Sense, waren bereits auf den Esel gepackt.
    »Nimm die Decke. Wir brechen auf.«
    Der Mond stand noch als schmale, fahlgelbe Sichel am Horizont. Der Alte zog mit energischem Schritt am Halfter, die Herde im Schlepptau. Der Hund verschwand immer wieder in der Nacht, um die verirrten Ziegen zurückzutreiben. An den Eselsgurt geklammert, stolperte der Junge bei jedem Schritt. Als sie mitten in der Nacht ihren Rastplatz verließen, hatte er noch gedacht, sie brächen vor dem Morgengrauen auf, um der Sonne auszuweichen. Der Route nach, der sie in den Tagen zuvor gefolgt waren, nahm er an, der Alte kenne sich in der Gegend aus und gegen Mittag würden sie erneut an irgendeinem Wäldchen oder Gestade rasten. Doch als die Zeit verging und sich weder das Dunkel lichtete noch das Tempo nachließ, wurde ihm klar, dass sie nicht nach einem geeigneten Weideplatz suchten.
    Im Morgengrauen machten sie am Fuße eines versengten Hügels Halt, hinter dessen Kuppe der Horizontversank. Der Hirte ließ das Halfter los und lief einige Meter weiter vor. Dort wanderte er nachdenklich auf und ab, erst zur einen Seite, dann zur anderen, mal mit erhobenem, mal mit gesenktem Kopf, so als suchte er etwas im Halbdunkel des Geländes. Fuhr sich nervös mit den Händen übers Gesicht oder rieb sich seufzend mit den Fingerspitzen die Augenlider. Reckte das Gesicht mit geschlossenen Augen himmelwärts, um den kaum merklichen Luftzug einzusaugen, der vom Hang herabblies. Mit der Nase suchte er die unsichtbare Tür ab, die sich vor ihm auftat, bis er zwischen allen Gerüchen des aufziehenden Morgens die Spur entdeckte, die sie hergeführt hatte.
    Unterdessen ließ der Junge sich, sobald er merkte, dass die Rast sich länger hinziehen würde, nieder, um auszuruhen. Er spürte, wie die Schwere seines Körpers ihn in Richtung Erde zog. Am liebsten hätte er sich gleich dort auf dem verbrannten Lehmboden schlafen gelegt, doch ein übel riechender Windhauch schreckte ihn auf. Als der Hirte entschlossenen Schritts zurückkehrte, erhob er sich. Der Alte prüfte die Herde, dann setzten sie sich wieder in Bewegung. Sie stiegen den Hang hinauf, den Resten von seit langem verkümmerten Weinstöcken ausweichend. Das kreuz und quer am Boden verstreute Rebholz webte auf dem Weinberg ein Netz fossiler Windungen.
    Als sie die Anhöhe erreichten, tauchte der Horizont wieder auf. Vor ihnen fiel die Hochebene ab und ging in eine Talsohle über, aus der, noch stärker als zuvor, der unerträgliche Gestank aufstieg. Der Junge bemühte sich, die Quelle dieses unerträglichen Miefs auszumachen, doch es war noch nicht hell genug, um die korallenartigenUmrisse des Massengrabs auszumachen, das sich dort unten zu ihren Füßen ausbreitete.
    Sie stiegen einen schmalen Pfad bergab, den Esel fest im Griff, der bei jedem Tritt den Halt zu verlieren drohte. Die Ziegen, die sich einzeln ihren Weg nach unten suchten, traten immer wieder Schieferplatten los. Eine nach der anderen rutschte hangabwärts, schlug in der Tiefe auf, zersprengte längst verblichene Gerippe. Gebeine in allen erdenklichen Verwesungsstadien. Schichten zerbröselten Kalks, reihenweise Wirbelknochen von Kühen, wuchtige Becken. Rippenbögen und Hörner. Ein augenloses Rind, das sich sein Fell noch bewahrt hatte. Ein Hautsack inmitten des sich ankündigenden Morgens. Das Fanal seiner ewigen Ruhe.
    In einigem Abstand von dem verwesten Ochsen ließen sie sich im gewölbten Schatten einer Akazie nieder. Die Ziegen verstreuten sich zwischen den Knochen auf der Suche nach Nahrung, und außer ihnen beiden blieben nur noch der Esel und der Hund wie die Figuren eines Krippenspiels zurück. Zum Frühstück aßen sie in Wein getunkten Fladen und legten sich anschließend zur Ruhe. Mit einem Gefühl

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